Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet BRIGITTE

(getauft am 30.09.2020)

 

Ende September 2020 dominierte Hoch NEPOMUK, welches in den vorherigen Tagen für viel Sonnenschein gesorgt hatte, das Wettergeschehen über Europa. Mit dem Monatswechsel in den Oktober änderte sich jedoch die Großwetterlage markant. Ein kräftiger Höhentrog über dem östlichen Nordatlantik, mit seinem bereits ausgebildeten Bodentiefdrucksystem ANDREA, sollte sich in den folgenden Tagen über Europa schieben. Unter einem Höhentrog versteht man in der Meteorologie einen Bereich von relativ geringem Druck in der mittleren Troposphäre, welche bei ca. 5,5 km Höhe liegt. Zusammen mit einem Höhenkeil, jener Bereich von relativ hohem Druck in der mittleren Troposphäre, bilden sie eine Welle, entlang welcher die Strömung in der Höhe fließt. Ein Keil ist dabei immer die nach Norden hin ausgebeulte Wölbung, während ein Trog die nach Süden hin ausgebeulte Wölbung der Welle ist. In der höheren Troposphäre bei ca. 8-12 km Höhe gibt es Bereiche, in denen der sogenannte Jetstream weht. Ein Jetstream ist ein Starkwindband, welches Geschwindigkeiten zwischen 100 und 500 km/h erreichen kann und entlang der mäandrierenden Höhenströmung von West nach Ost weht. Jetstreams entstehen an der Grenze zwischen unterschiedlich warmen Luftmassen. So auch der Polar-Jetstream, welcher an der Polarfront, der Grenze zwischen den kalten, polaren Luftmassen im Norden und den milden, subtropischen Luftmassen im Süden, weht. Dieser wehte in der Nacht zum 01. Oktober entlang der Vorderseite des Höhentroges über dem Nordatlantik von Nordwest nach Südost und war der Grund für die Bildung eines Tiefs an dessen linker Vorderseite oder auch linkem Jetausgang genannt. Dort kam es durch das Ausströmen der Luft oder auch Divergenz in der höheren Troposphäre, zum Nachströmen der Luftmassen aus den unteren Schichten nach oben und ein Tiefdruckgebiet am Boden war entstanden. Dieses Tief sollte in der Folgezeit das Wetter in Europa maßgeblich beeinflussen und wurde deshalb von den Meteorologen der Berliner Wetterkarte am 30. September in der Prognose für den 01. Oktober auf den Namen BRIGITTE getauft.

 

Ihre Wurzeln hatte das Tief BRIGITTE in Irland. So wurde der noch anfänglich unscheinbare und frontenlose Kern, aus dem später die beeindruckende Zyklone BRIGITTE entstehen sollte, am 01. Oktober um 02 Uhr MESZ mit einem Luftdruck von knapp 1000 hPa westlich der Nordirischen Küste analysiert. Im Tagesverlauf verlagerte sich Tiefdruckgebiet BRIGITTE jedoch in Richtung Süden weiter und durchlief dabei eine eindrucksvolle Zyklogenese. Binnen weniger Stunden bildete sich vom Kern abgehend ein Frontensystem aus, bestehend aus einer Kalt- und einer Warmfront, welche sich entgegen dem Uhrzeigersinn oder auch zyklonal um den Kern des Tiefs drehten. Entlang dieser Fronten fiel in der Nacht zum 02. Oktober ergiebiger Regen. So brachte die Warmfront entlang des Ärmelkanals die ersten Niederschlagsmengen. Die größte Niederschlagsmenge auf der britischen Seite meldete die englische Messstation auf der Isle of Portland, die am 02. Oktober in einem Zeitraum von zwölf Stunden bis 08 Uhr MESZ, eine Regenmenge von 28,0 l/m² verzeichnete. Auf der französischen Seite registrierten die Niederschlagsmessgeräte im selben Zeitraum verbreitet noch höhere Werte um die 30,0 l/m². Spitzenreiter war dabei die Messstation in Saint-Brieuc in der Bretagne mit einem Messwert von 54,0 l/m² in zwölf Stunden. Noch heftiger fielen die Regenmengen mit dem Eintreffen der Kaltfront entlang der Nordseite der Iberischen Halbinsel aus. Die Kaltfront traf in der Nacht auf den 02. Oktober nahezu parallel auf die spanische Nordküste und verursachte dort zahlreiche Regenschauer. Im Mittel kamen bis 08 Uhr MESZ in einem Zeitraum von 12 Stunden Niederschlagsmengen von über 50 l/m² zustande. Den Höchstwert mit 69,8 l/m² meldete die Messstation im asturischen Ort Colunga.

Bis zum 02. Oktober um 02 Uhr MESZ hatte sich Tief BRIGITTE mit ihrem Kern über die Bretagne verlagert. Da sich die Zyklone während der gesamten Verlagerung unter dem Bereich der Luftmassendivergenz in der Höhe befand, konnte sie sich beachtlich verstärken. So besaß sie über der Bretagne bereits einen Kerndruck von 980 hPa. Dies entspricht einem Druckfall von 20 hPa in 24 Stunden. Besonders gut registrierte die Messstation in der französischen Gemeinde Dinard diesen markanten Drucksturz. So sank das Barometer zwischen 00 und 03 Uhr MESZ  in nur drei Stunden um ganze 16 hPa von 978,2 zu 962,2 hPa. Diese starken Druckunterschiede machten sich auch in den Windgeschwindigkeiten bemerkbar. In der Nähe des Kerns von Tief BRIGITTE, das sich mittlerweile zu einem kleinen Orkanwirbel verstärkt hatte, frischte der Wind ordentlich auf. So verzeichnete die Messstation in der Stadt Rennes um 03 Uhr MESZ Orkanböen von 116,7 km/h. Noch höhere Windgeschwindigkeiten wurden in dieser Nacht nur an den Messstationen Beg Melen auf der Insel Île de Groix und Le Tault auf der Insel Belle-Île-en-Mer vor der französischen Küste gemessen. Dort registrierte das Anemometer Orkanböen von 157,4 km/h (Beg Melen) und 185,2 km/h (Le Tault). Trotz der leichten Abschwächung des Tiefs in den folgenden Stunden sorgte der starke Druckgradient in der Nähe des Kerns weiterhin für sehr hohe Windgeschwindigkeiten. Vor allem in der Bretagne verzeichneten mehrere Messstationen Böen mit Orkanstärke. Spitzenreiter war dabei die Messstation Pointe du Raz, an der um 19 Uhr MESZ eine Windböe von 124,1 km/h gemessen wurde.

 

Im weiteren Tagesverlauf zog Tief BRIGITTE nur langsam nach Süden weiter und wurde bis zum 03. Oktober um 02 Uhr MESZ mit einem immer noch prominenten Kerndruck von 980 hPa über der Biskaya analysiert. Währenddessen drehte es sich weiter um den eigenen Kern ein, sodass die Zyklogenese weiter voranschritt. In der Nähe des Tiefdruckkerns hatte die Kaltfront die Warmfront teilweise eingeholt, sodass der Warmsektor, der Bereich warmer Luft zwischen Kalt- und Warmfront, immer kleiner wurde und die warme Luft angehoben wurde. Dadurch entstand dort eine Art Mischfront aus kalter und warmer Luft, welche in der Meteorologie als Okklusionsfront bezeichnet wird. Diese Okklusionsfront erstreckte sich mittlerweile vom Kern des Tiefs über der Biskaya ausgehend entlang der französischen Küste bis zu den Benelux-Ländern und sorgte dort aufgrund der für sie charakteristischen hohen Labilität für einige Niederschläge. Die größten Niederschlagsmengen wurden weiterhin in der Bretagne gemessen, wo die Messstation in der Gemeinde Landivisiau bis zum 03. Oktober um 02 Uhr MESZ in 24 Stunden eine Regenmenge von 43,6 l/m² auf die Niederschlagswaage brachte. Weitaus heftiger jedoch waren die Vorgänge, die sich im selben Zeitraum an der Vorderseite des Höhentroges abspielten. Aufgrund des langsamen Voranschreitens von Tief BRIGITTE, kam auch dessen Kaltfront, die sich mittlerweile von der Okklusionsfront über den Beneluxstaaten ausgehend bis über dem Mittelmeer nach Afrika erstreckte, nur schleifend voran. Bei der Überquerung von Südwest nach Nordost des Mittelmeers, dessen Wasser zu dieser Zeit noch Temperaturen von bis zu 25°C vorweisen konnte, sorgte die Kaltfront aufgrund des großen Temperaturunterschiedes zwischen Atmosphäre und Ozean für eine sehr starke Hebung. Die Wolken der Kaltfront pumpten enorme Mengen an Wasser aus dem Mittelmeer und regneten dieses beim Auftreffen auf die Gebirge über dem Alpenraum wieder herab. Daraus resultierten bis zu den Morgenstunden des 03. Oktobers katastrophale Niederschläge im gesamten westlichen Alpenraum. Vor allem die italienische Region Piemont wurde sehr hart getroffen. Die hohen Windgeschwindigkeiten im Zusammenhang mit den sintflutartigen Regenmengen verursachten überall Schäden und sorgten für verheerende Überschwemmungen. Von den Seealpen bis zum Tessin in der Schweiz meldeten zahlreiche Messstationen bis 08 Uhr MESZ über 300 l/m² Niederschlag in nur 24 Stunden. So wurden an der piemontesischen Messstation Limone Pancani auf 1875 m Höhe 594,0 l/m² gemessen. Davon fielen allein bis 20 Uhr MESZ in nur zwölf Stunden 415,6 l/m². Noch härter traf es die Messstation auf 1040 m Höhe im weiter nördlich gelegenen piemontesischen Dorf Piedicavallo, wo in nur 24 Stunden ein unfassbarer Wert von 625,6 l/m² registriert wurde! Zum Vergleich: die durchschnittliche Niederschlagsmenge von Berlin in einem ganzen Jahr entspricht nur 570 l/m². Aufgrund der Temperaturen über dem Gefrierpunkt konnte sich der Niederschlag auch nicht in Form von Schnee binden und floss auf direkten Wegen in die Flüsse ab. Dies sorgte für zahlreiche Überschwemmungen, Murenabgänge, Straßenverlegungen und anderen Schäden im ganzen Alpenraum. Selbst nach dem Durchzug der Kaltfront und dem damit zusammenhängenden Temperaturrückgang schneite es nur vereinzelt in höheren Lagen.

 

Auch im Tagesverlauf des 03. Oktobers hielten die Niederschläge in den Bereichen der Kaltfront weiter an. Zwar fielen sie nicht so stark wie am Vortag aus, waren aber trotzdem für die Pegelstände mancher Flüsse eine Gefahr, da die bereits gesättigten Böden kein Wasser mehr aufnehmen konnten. An der Messstation in der norditalienischen Gemeinde Agordo fielen beispielsweise bis zum 04. Oktober um 08 Uhr MESZ in 24 Stunden 83,0 l/m² Regen. Noch heftiger waren die Niederschläge über Kroatien. Dort wurden Spitzen bis zu 247,8 l/m² Niederschlag in der Stadt Zengg registriert. Aufgrund des starken Druckgradienten gab es im Alpenraum vielerorts auch sehr starken Wind. An der Messstation am Schweizer Berg Matro auf 2171 m Höhe wurden extreme Orkanböen von 181,5 km/h gemessen. Auch südlich von Innsbruck am Patscherkofel auf 2251 Metern über dem Meeresniveau wehte ganztägig starker Wind. Die maximal gemessene Windböe betrug dabei 175,9 km/h, was Stufe 12 auf der Windskala nach Beaufort entspricht. Dieser starke Luftdruckgradient und der damit zusammenhängende Wind hatten auch einen Einfluss auf die Temperaturen. Während auf der südlichen, dem Wind zugewandten Seite der Alpen, die auch LUV-Seite genannt wird, nach dem Durchzug der Kaltfront die Temperaturen im Bereich der 15°C lagen, machte sich hinter der vom Wind abgewandten nördlichen Seite der Alpen, die auch LEE-Seite genannt wird, der Föhneffekt bemerkbar. Die vom Wind an den Bergen angehobenen Luftmassen sanken auf der anderen Seite wieder herab und erwärmten sich dabei wieder, was einen Einfluss auf die Temperaturen auf der LEE-Seite hatte. So wurde beispielsweise an der Messstation im österreichischen Amstetten am 03. Oktober eine Maximaltemperatur von 27,0°C gemessen. Auch in Kufstein in Tirol wurde noch eine Maximaltemperatur von 25°C gemessen, während der Höchstwert in Lienz gerade mal 15°C betrug und damit ganze 10 Kelvin geringer war.

 

Bis zum 04. Oktober hatte sich das Tief BRIGITTE entlang der Höhenströmung weiter nach Norden verlagert und wurde um 02 Uhr MESZ mit einem immer noch hartnäckig starken Kerndruck von 980 hPa mit ihrem Zentrum über Großbritannien analysiert. Im Bereich der Kaltfront, die sich mittlerweile von Nord nach Süd über ganz Deutschland bis zur italienischen Stiefelspitze erstreckte, fielen weiterhin geringe Mengen an Regen. Im weiteren Tagesverlauf überquerte die Kaltfront Ostdeutschland und Polen und drehte sich immer weiter um das nahezu stationäre Tiefdruckzentrum ein, sodass die die Zyklone BRIGITTE immer weiter okkludierte. An der Messstation der polnischen Stadt Ustka wurde beispielsweise bis 20 Uhr MESZ in einem Zeitraum von 12 Stunden eine Regenmenge von 15,0 l/m² gemessen. Größere Niederschlagsmengen fielen im Bereich des Okklusionspunktes, dem Gebiet, an dem die kalten Luftmassen auf die vorlaufenden, warmen Luftmassen treffen. Dieser verlagerte sich im Verlauf des 04. Oktober über Südnorwegen. So wurden beispielsweise an der Messstation in Hynnekleiv in der norwegischen Gemeinde Froland in einem Zeitraum von 12 Stunden bis 20 Uhr MESZ 57,7 l/m² Regen gemeldet.

 

Am 05. Oktober um 02 Uhr MESZ lag die Zyklone BRIGITTE, die sich in den vergangenen Stunden kaum verschoben hatte, mit einem Kerndruck von 990 hPa über der Mündung der Themse. Sie war inzwischen vollständig okkludiert und damit im letzten Stadion der Zyklogenese angelangt. Trotzdem hatte sie weiterhin einen Einfluss auf das Wetter in Mitteleuropa und damit auch auf Deutschland, wohin sie unnachgiebig feuchte, labile Meeresluft heranführte und damit für unbeständiges Wetter sorgte. Die Okklusionsfront der Zyklone reichte von den Beneluxstaaten ausgehend über den Britischen Inseln bis nach Norwegen. Dort sorgte sie weiterhin für Niederschläge. Spitzenreiter war die Messstation im niederländischen Dorf Wijk aan Zee an der 12-stündig bis 20 Uhr MESZ 41,5 l/m² Regen herabfielen.

Bis zum 06. Oktober um 02 Uhr MESZ hatte sich Tief BRIGITTE auf der Höhe von Schottland noch in zwei Kerne aufgespaltet. BRIGITTE I lag dabei über der östlichen Seite auf der Höhe von Edinburgh, während BRIGITTE II über der westlichen Seite nördlich von Irland verweilte. Beide besaßen zu dieser Zeit einen Kerndruck von 990 hPa. Am nachfolgenden Tag vereinten sich die beiden Kerne der Zyklone BRIGITTE wieder zu einem Kern, welcher in Richtung Skandinavien weiter zog. Dabei schwächte sich die Zyklone auf einen Druck von knapp unter 995 hPa ab und war aufgrund eines fehlenden Frontensystems nur noch wenig wetteraktiv. In der Nacht zum 08. Oktober löste sich der Tiefdruckkern letztendlich auf und wurde nachfolgend durch die beiden Tiefdrucksysteme CATHRIN und DORIS ersetzt.

 

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Tiefdruckgebiet BRIGITTE von der besonderen und meteorologisch sehr interessanten Sorte war. Sie hatte fast durchgängig günstige Bedingungen für eine Verstärkung und erreichte dadurch den Status eines Sturm- bzw. kurzzeitig auch eines Orkantiefs. Wegen der Stationarität des Tiefdruckzentrums, kam auch die Kaltfront nur langsam voran und hatte deshalb genügend Zeit, jede Menge Wasser aus dem noch warmen Mittelmeer aufzunehmen, was zu den sintflutartigen Regenfällen über dem Alpenraum geführt hatte. Doch die Zyklone BRIGITTE war nicht nur auf Grund ihrer Wetteraktivität ein besonderes Tiefdruckgebiet. Tief BRIGITTE war nämlich eine Shapiro-Keyser-Zyklone. Benannt nach ihren Entdeckern haben Shapiro-Keyser-Zyklonen einen relativ warmen Kern, welcher von der um den Kern einwickelnden Warmfront mit feucht-warmer Luft gespeist wird. Die Kaltfront geht dadurch nicht mehr vom Kern des Tiefs aus, sondern verläuft abgetrennt vom Mittelpunkt. Shapiro-Keyser-Zyklonen haben die Eigenschaft zwischen der Warmfront und dieser abgetrennten Kaltfront sogenannte Sting-Jet-Bereiche auszubilden, in denen es zu sehr starken bodennahen Winden kommen kann. Für die Zyklone BRIGITTE wurden solche Orkanböen in Frankreich in der Bretagne registriert. Auf Satellitenbildern konnte man auch die beeindruckende Spiralstruktur der Shapiro-Keyser-Zyklone BRIGITTE erkennen.