Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet GISELA

(getauft am 11.10.2020)

 

Die Entstehung eines neuen Tiefdruckgebietes sollte am 08./09. Oktober mit dem Vordringen von höhenkalter Luft vom Nordostatlantik nach Zentraleuropa ihren Anfang nehmen. Solche Vorstöße ereignen sich in der mittleren Atmosphäre regelmäßig, wobei neben Temperatur- auch Druckanomalien auftreten. Die Ausdehnung dieser Druckgebilde, in der Meteorologie spricht man auch von "Höhentrog", erstreckt sich auf gut 1000 und mehr Kilometern und liefert oftmals den Impuls für Tiefdruckneuentwicklungen. So auch dieses Mal, als beim Überströmen der Westalpen dynamische Prozesse für einen Luftdruckfall über Norditalien sorgten.

Zeitgleich breiteten sich mit dem Vordringen kühlerer Luft, die in den Bodendruckkarten als Kaltfront sichtbar wurde, Niederschläge über den Alpenraum südwärts bis nach Italien aus. Bereits in der Nacht zum und am 11. Oktober kam es zu schwerwiegenden Regenfällen über den Regionen Venetien, Südtirol und den nördlichen Apenninen. Dabei wurden Regenmengen von häufig über 30 l/m² in 12 Stunden gemessen. Beispielsweise fielen in der Nacht in Venedig 44 l/m², während tagsüber in Sgonico-Zgonik bei Triest 58 l/m² beobachtet wurden. Eine wesentliche Ursache war der große Temperaturkontrast zwischen der einströmenden Höhenkaltluft mit Temperaturen von -20°C bis -25°C in circa 5,5 km Höhe, im Vergleich zur hier lagernden, warmen Mittelmeerluft. Um den 10. Oktober wurden über Norditalien noch Höchstwerte von 20°C oder knapp darüber gemessen und auch die Oberflächentemperatur von der Adria und dem Tyrrhenischem Meer lag meist bei lauen 20°C bis 23°C. Für die weitere Entwicklung rechneten die Meteorologen mit der Bildung einer abgeschlossenen Zyklone, die sich mit der Höhenströmung nord- bzw. nordostwärts verlagern und somit auch Einfluss auf das Wetter in Deutschland nehmen sollte. Folglich wurde das Tief noch am 11. Oktober auf den Namen GISELA getauft.

 

In den Frühstunden des 12. Oktober konnte Tief GISELA erstmals in der Berliner Wetterkarte analysiert werden. Der Kern mit einem Luftdruck von knapp unter 1010 hPa befand sich um 00 UTC, was 02 Uhr MESZ entspricht, über Mittelitalien, genauer zwischen dem Ligurischem Meer, den Apenninen und der Adria. Die Ausläufer reichten bereits zu diesem Zeitpunkt nordostwärts bis zur Balkan-Halbinsel, sowie südwärts über das Mittelmeer bis nach Nordafrika. Die Wolken- und Niederschlagsfelder dehnten sich an diesem Tage rasch bis zur Balkan-Halbinsel aus und drangen auch nordwärts bis ins östliche Mitteleuropa voran. So registrierten die Messstationen in einem 12-stündigen Zeitintervall vielfach zweistellige Regenmengen, im italienischen Lecce waren es beispielsweise 15 l/m², in Sarajewo 25 l/m², im montenegrinischen Nikšić gar 68 l/m². Wie schon am Vortag waren die Niederschläge über Südeuropa vielfach schauerartig verstärkt und gebietsweise auch von Blitz und Donner begleitet. So meldete die oben erwähnte Wetterstation in Lecce bereits zwischen 05 und 07 UTC und dann nochmal um 13 UTC leichte bis mäßige Gewitter. Etwas weniger intensiv waren die Regenfälle weiter nördlich, über Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, in Budapest fielen zwischen 06 und 18 UTC 9 l/m², in Warschau 10 l/m² und in Krakau 15 l/m². Unter dichten Regenwolken erlebten vor allem Teile des Westbalkans, allen voran Kroatien, Bosnien, Teile Sloweniens, sowie Serbien, einen markanten Temperatursturz um mitunter 10 Kelvin und mehr. So lagen etwa die Höchstwerte in Belgrad bei nur noch 11°C, nachdem sie tags zuvor noch bei 20°C gelegen hatten. In der Nacht verlagerten sich die stärksten Regengüsse Richtung östlichen und südlichen Balkan, respektive nach Ungarn, Serbien, Mazedonien, Albanien und Griechenland. Hier lagen die Niederschlagsmengen weiterhin im zweistelligen Bereich, nicht selten wurden über 30 l/m² in 12 Stunden ermittelt, in der Spitze waren es in der albanischen Hafenstadt Vlora sogar 111 l/m².

In dieser Region wurde am frühen Morgen des 13. Oktober auch das Zentrum verortet (Nordmazedonien). Der Luftdruck war auf knapp unter 1005 hPa gesunken. Die mit dem Kern verknüpften Ausläufer dehnten sich mittlerweile nordwärts über das östliche Mitteleuropa, wo ein Teiltief von GISELA zu finden war, bis ins Baltikum aus, südwärts über Griechenland und Mittelmeer bis weit nach Libyen hinein. Die Kaltfront drang im Tagesverlauf mit Regenschauern bis zum Schwarzen Meer und die Türkei vor. Gleichzeitig "wanderte" der Tiefdruckkern über das Balkangebirge und die Karpaten nordwestwärts Richtung östliches Mitteleuropa. Dies führte gerade über Rumänien zu ergiebigem, z.T. schauerartig verstärktem Dauerregen (z.b. Apa Neagra 46 l/m² in 12 Stunden), über Moldawien entwickelten sich verbreitet Gewitter (z.B. in Bravicea um 20 Uhr MESZ). Durch die Einmischung höhenkalter Luft fiel über Siebenbürgen in den Hochlagen Schnee- oder Schneeregen, wobei die Schneefallgrenze bis zum Abend über dem Westen Rumäniens auf unter 1500 m sank. Selbst in den Niederungen reichte es für erste Flocken, z.B. meldete Baia Mare, auf 218 m Höhe gelegen, zum Abend Schneeregen. Schnee fiel auch in den Hochlagen von Sudenten und Beskiden. An der Station Kaprak im Altvatergebirge, auf 1327 m Höhe schneite es ab den Vormittagsstunden für längere Zeit. Am drauffolgenden Morgen sollte die Messung hier 35 cm Neuschnee ergeben. Auch in den Niederungen Ungarns, Tschechiens, der Slowakei und Polen setzten sich die Niederschläge, hier allerdings als Regen fort. Ähnlich den vorangegangenen Tagen lagen die durchschnittlichen Mengen um 10 l/m² in 12 Stunden (z.B. Wien 15 l/m²), die höchsten Werte lagen bei über 30 l/m² (Eger 46 l/m²). Unter dichten Regenwolken erreichten die Temperaturen über dem östlichen Mitteleuropa kaum 10°C, in Prag und Budapest wurden maximal 8°C gemessen, in Warschau 9°C und in Belgrad 10°C. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tief GISELA ihren Höhepunkt erreicht, was auch aus dem Weltall auf Satellitenaufnahmen eindrucksvoll zu sehen ist. Dabei zeigt sich in den Mittagsstunden ein riesiger Wolkenbatzen mit einem Durchmesser von gut über 1200 km, mit hochreichender Bewölkung über dem östlichen Zentraleuropa. Um sich die Dimension einmal vor Augen zu führen, es reichten zusammenhängende Wolkenfelder von Riga bis Zagreb und von Berlin bis nach Kiew. Nachts setzten erste Niederschläge am Rande von Tief GISELA auch über dem Osten und Südosten Deutschlands ein. Im bayrischen Tischenreuth wurden bis zum darauffolgenden Morgen 06 UTC beispielsweise 4 l/m² registriert, in Leipzig waren es 5 l/m², in Chemnitz 14 l/m² und in Görlitz gar 35 l/m². Nun fielen auch über Erz- und Fichtelgebirge, sowie dem Bayrischer Wald erste Flocken. Liegen blieb davon nichts, da die Null-Grad-Grenze rasch bis in die Gipfellagen anstieg. Ansonsten blieb diese Nacht für Mitte Oktober sehr mild, lagen die Tiefstwerte in Berlin um 10°C, in Warschau bei 8°C, in Riga bei 7°C und in Minsk bei 12°C. Vor allem über Polen und im Bereich der südlichen Ostsee frischte der Wind nun merklich auf, dabei kam es verbreitet zu starken bis stürmischen Böen, vereinzelt zu Sturmböen (z.B. in Posen mit 76 km/h).

Unterdessen wurde Tief GISELA am 14. Oktober um 00 UTC mit Zentrum über Zentralpolen analysiert. Der Kerndruck lag bei um 995 hPa, wie Messungen aus Lodz (995,6 hPa) belegen. Die Ausläufer reichten zu diesem Zeitpunkt als Warmfront bis nach Westrussland, dagegen verlief die Kaltfront vom Kern aus bogenförmig über die Ukraine bis zum Schwarzen Meer und der Türkei. Für diesen Tag schien der Tiefdruckwirbel sich stationär über Ost-Mitteleuropa "einzukringeln". Dabei stieg der Luftdruck nun kontinuierlich an. Gleichzeitig schlossen sich Warm- und Kaltfront in Kernnähe zur sogenannten Okklusion zusammen. Kurzum, das Tief begann zu altern. Nichts desto trotz, kam es zur Fortsetzung der kräftigen Regenfälle im Bereich des Tiefdruckkerns, auch weil sich warme Luftmassen aus dem Mittelmeerraum und kühlere Luftmassen aus Skandinavien bzw. dem Nordpolarmeer mehr und mehr mischten. Abermals lag der Schwerpunkt über der Slowakei, Tschechien, Ostdeutschland, Nordpolen und dem Baltikum. Hier blieben die Regenmengen vielfach zweistellig. So ergaben Messungen für Bratislava 18 l/m², im pommerschen Lebork waren es 21 l/m², im litauischen Šiauliai 15 l/m² und in Leipzig-Holzhausen 30 l/m². Auch der Wind blieb an der Nordwestflanke von Tief GISELA lebhaft und erfasste nun auch den Osten und Nordosten Deutschlands. Im Berliner Raum etwa wurden in den Mittagsstunden Windstärken zwischen 7 und 8 gemessen (vgl. Schönefeld Flughafen 10 UTC bis 64 km/h), weiter nördlich in Stettin oder Rostock, sowie an exponierten Küstenabschnitten der westlichen Ostsee gab es auch Sturmböen zwischen 75-100 km/h. Unter dichten Regenwolken konnte sich die Luft kaum erwärmen, so lagen die Höchsttemperaturen über dem östlichen Mitteleuropa bei meist um oder knapp unter 10°C. Als Kontrast dazu lenkte die Zyklone auf ihrer Vorderseite einen Schwall sehr milder Mittelmeer-Subtropikluft über die Ukraine bis nach Weißrussland und Russland. Bereits am Vortag wurden hier Temperaturen von 15-20°C beobachtet, über Südrussland auch bis zu 25°C und in Schwarzmeernähe stieg das Quecksilber sogar auf knapp über 30°C (Simpferopol 31°C, Amarwir 32°C). Für den 14. Oktober meldeten die Wetterstationen nun ganz ähnliche Temperaturen, in Moskau und Kiew wurden z.B. 18°C gemessen, in Wolgograd 23°C und in Sotchi bis zu 29°C.

 

Am darauffolgenden Tag wurde Zyklone GISELA mit der Höhenströmung rasch nordostwärts nach Russland gelenkt. Nachdem der Kern am frühen Morgen noch über Polen und dem Baltikum lag, befand er sich mittags bereits nördlich des Moskauer Raums (vgl. Rybinsk 12 UTC 1004,6 hPa). So ließen die Niederschläge im Laufe des 15. Oktober über dem Osten Deutschlands, wie auch über Polen und dem Baltikum allmählich nach und auch der Wind legte sich. Bald schon sollte in Mitteleuropa das Nachfolgetief FOELKE wetterbestimmend werden, während Tief GISELA nun mehr und mehr das Wetter über Osteuropa, allen voran Russland beeinflusste. Vor allem entlang des von Zentral- nach Nordwestrussland ziehenden Kerns kam es zu ergiebigen Niederschlägen. In einem Messintervall zwischen 03 und 15 UTC wurden meist Mengen von 5-15 l/m² beobachtet, wie etwa in Rybinsk mit 12 l/m² oder in Tscherepowez mit 17 l/m². Dagegen blieb es in Moskau und St. Petersburg zunächst noch trocken.

 

Die Niederschläge setzten sich mit ähnlicher Intensität auch in der Nacht und am darauffolgenden 16. Oktober weiter fort, wobei sich der Schwerpunkt mehr nach Nordwestrussland verlagerte. Die Station Syktywkar, knapp 1000 km nordöstlich von Moskau, meldete etwa 14 l/m² zwischen 15 UTC und 03 UTC des Folgetages. Da hier die mit der Zyklone GISELA geführte, feuchte und mäßig warme Luft auf kühle arktische Luftmassen traf, gingen die Niederschläge mehr und mehr in Schnee über. Bei Höchstwerten von knapp über Null Grad (Syktywkar +2°C, Kotlas +1°C, Workuta 0°C) und nächtlichen Minima knapp unter dem Gefrierpunkt (Petrosawodsk -1°C, Kotlas -0°C, Uchta -2°C) fand sich am frühen Morgen des 16. Oktober die erste Schneedecke des Winterhalbjahres 2020/21 in dieser Region. Beispielsweise wurden um 03 UTC in Kotlas und Syktywkar 16 cm gemessen, in Uchta waren es 6 cm. Dem gegenüber standen weiterhin sehr milde Temperaturen über Zentral- und Südrussland. Allerdings, mit weiterer Verlagerung von Tief GISELA Richtung nördliches Uralgebirge am 16. Oktober, drang auf der Rückseite des Tiefs nun eben jene kühle Luft, die zuvor nördlich des Polarkreises anzutreffen war, südwärts voran. Dies führte nicht nur zu einem bemerkenswerten Temperaturkontrast über dem europäischen Teil Russlands, von 23°C in Wolgograd, über 6°C in Moskau bis hin zu 2°C in Petrosawodsk. Sondern es kam auch zu weiteren Niederschlägen entlang der Luftmassengrenze, meist fielen diese in flüssiger Form, nur nördlich der Flüsse Suchona, Wytschegda und Kama auch als Schnee. Wettermeldungen des Tages berichten von 12-stündigen Niederschlagsmengen von etwa 5 l/m² in Woronesh, in Tula waren es 8 l/m², in Tambow 11 l/m², aber in Moskau nur noch 1 l/m².

 

In den Frühstunden des 17. Oktober befand sich Tief GISELA mit Kern bereits östlich des Nordural, nahe der nordwestsibirischen Stadt Nowy Urengoi. Der Luftdruck war nochmals auf knapp unter 985 hPa gesunken, ohne dass dies noch nennenswerten Einfluss auf das Wetter im europäischen Raum haben sollte. Denn, mit der weiteren Entfernung des Tiefs und seiner Ausläufer Richtung Westsibirien, sollten auch die Niederschläge über dem europäischen Teil Russlands allmählich abklingen. Schließlich entschwand Tief GISELA am 18. Oktober dem Ausschnitt der Berliner Wetterkarte.