Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet HERWART

(getauft am 28.10.2017)

 

Tiefdruckgebiete entstehen häufig im Grenzbereich zwischen warmer Subtropikluft im Süden und kälteren polaren Luftmassen im Norden, welcher als Polarfront bezeichnet wird. Ende Oktober 2017 wurde die mit der Polarfront einhergehende Höhenströmung in der mittleren Troposphäre durch einen kräftigen Höhenwirbel über dem zentralen Nordatlantik sowie durch einen gleichermaßen ausgebildeten und weitreichenden Vorstoß warmer Luftmassen über dem Ostatlantik nach Norden verschoben, wobei sie am 27.10. von der Baffin Bay über Grönland und Island bis zum Europäischen Nordmeer und der Nordsee verlief. Über dem Osten Islands entwickelte sich dabei ein neues Tiefdruckgebiet aus, welches folgend wetterbestimmend für Mitteleuropa werden sollte und daher am 28.10. auf den Namen HERWART getauft wurde.

Das Tief HERWART befand sich um 01 Uhr MEZ seines Tauftages mit einem Kerndruck von ca. 1006 hPa über der Ostküste Islands und wies zu diesem Zeitpunkt eine nach Südosten bis zur Nordspitze Schottlands reichende Warmfront auf, die anschließend über der Nordsee in die Kaltfront des Skandinavientiefs GRISCHA überging. Außerdem erstreckte sich vom Tiefdruckkern der Zyklone HERWART eine Kaltfront in südwestliche Richtung, die verwellt bis westlich der Südspitze Grönlands verlief. Bereits in der Nacht bildete sich zwischen dem Tief HERWART und dem Hoch VERA mit Lage südlich der Britischen Inseln ein ausgeprägtes Sturmfeld über dem Norden Schottlands und der Nordsee sowie in der zweiten Nachthälfte auch folgend über Norwegen aus. Das Sturmfeld nahm rasch Orkanstärke an und sorgte so bis zum Morgen für Spitzenböen von 166,6 km/h in den schottischen Cairngorms und 144,1 km/h auf dem norwegischen Juvvasshøi. Aber auch im Flachland konnten Orkanböen verzeichnet werden, wie an der norwegischen Station Lindesnes Fyr, welche nur 13 Meter über dem Meeresspiegel liegt, mit 126,1 km/h.

Mit der kräftigen Höhenströmung verlagerte sich der Wirbel HERWART unter Verstärkung im Tagesverlauf rasch nach Südwesten und konnte am Abend bereits mit Zentrum über dem Süden Skandinaviens analysiert werden. Bereits zuvor sorgte das Tief GRISCHA vor allem in Norwegen für ergiebige Niederschläge von oftmals über 20 l/m². Zwar zog das Tief GRISCHA bis zum Abend in Richtung Finnland und Baltikum ab, jedoch sind auch bei den 12-stündigen Niederschlagsmengen um 19 Uhr MEZ noch ein großer Teil diesem Wirbel zuzuschreiben. So fielen beispielsweise bis 13 Uhr MEZ innerhalb von nur 6 Stunden 47 l/m² an der Station Oslo/Gardemoen. Mit Durchzug der Fronten des Orkantiefs HERWART setzten in Norwegen Schnee- und Regenschauer ein, die über 12 Stunden bis 19 Uhr MEZ aufsummiert 15 l/m² in Fossmark, je 16 l/m² in Furuneset und Tagdalen sowie 21 l/m² in Innerdalen ergaben.

Während in Skandinavien die Windgeschwindigkeiten wieder sanken, intensivierte sich das Orkanfeld über Großbritannien weiter. Vor allem in höheren Lagen nahmen die Spitzenböen im Orkanbereich zu, wobei auf dem Great Dun Fell 129,7 km/h, auf dem Cairnwell 157,5 km/h und an der Station in den Cairngorms sogar 183,5 km/h gemessen werden konnten. Auch weiter südöstlich über dem europäischen Festland nahmen die Windgeschwindigkeiten aufgrund der herannahenden Zyklone HERWART zu. So wurden bis zum Tagesende 126,1 km/h in Saint-Hubert in Belgien registriert und auch im Norden Deutschlands sowie auf dem Brocken und dem Fichtelberg konnten Böen der Stärke 11 und 12 verzeichnet werden. Jeweils eine Spitzenböe von 129,7 km/h meldeten die Stationen auf dem Brocken und am Leuchtturm Alte Weser.

Das Orkantief HERWART befand sich um 01 Uhr MEZ des 29.10. mittlerweile mit seinem Zentrum und einem deutlich gesunkenen Druck von etwa 980 hPa über dem Raum Kopenhagen. Die Kaltfront hatte bis zu diesem Zeitpunkt bereits einen Teil der Warmfront in Kernnähe eingeholt und die warme Luft somit angehoben. Der daraus resultierende Frontentyp wird Okklusion genannt und vereinigt Eigenschaften von Warm- und Kaltfront in sich. Die kurze Okklusion reichte vom Kern nach Südosten bis zur Südspitze Schwedens, wo sich der Okklusionspunkt, also die Schnittstelle von Warm- und Kaltfront, befand. Die Warmfront führte anschließend über den Westen Polens, Sachsen, Thüringen und Hessen bis über den Nordosten Frankreichs. Die Kaltfront verlief hingegen über den Norden Deutschlands nach Westen und überquerte die Nordsee, den Norden Englands und Nordirland und endete schließlich nahe der Südostküste Grönlands.

Mit Herannahen und Durchzug des Frontensystems entwickelte sich bis zum Morgen ein ausgedehntes Niederschlagsgebiet über Deutschland, Österreich, Tschechien, Polen und der Slowakei mit Regenmengen von oftmals über 10 l/m² und vereinzelt über 20 l/m² in 12 Stunden. So fielen 22 l/m² im polnischen Lebork, 28 l/m² in Carlsfeld, 30 l/m² auf dem Großen Arber und 34 l/m² in Braunlage. Im tschechischen Pec pod Snezkou im Riesengebirge wurden sogar 50 l/m² verzeichnet. In Österreich konnten derweil in nur 3 Stunden 15 l/m² auf dem Feuerkogel registriert werden. Der Kaltfront weiter nach Westen folgend nahm die Niederschlagsintensität deutlich ab, wobei auf den Britischen Inseln und in den Benelux-Staaten nur noch einstellige Mengen zusammenkamen. In Skandinavien, und dabei vor allem im Süden und in der Mitte Norwegens und Schwedens, blieb es jedoch regenreich mit 12-stündigen Niederschlagssummen von beispielsweise 20 l/m² in Innerdalen, 22 l/m² in Bjorli und 25 l/m² auf der südschwedischen Ostseeinsel Hanö.

Bis zum Abend verlagerte sich der Schwerpunkt des sich nach Osten ausweitenden Niederschlagsgebietes über Tschechien, Polen, die Slowakei, die Ukraine und Weißrussland. In 12 Stunden wurden dabei nochmals 17 l/m² im weißrussischen Lida, 19 l/m² im südostpolnischen Zamosc, 27 l/m² im rumänischen Ocna Sugatag nahe der Grenze zur Ukraine und 42 l/m² auf dem Lomnicky Stit im slowakischen Teil der Hohen Tatra registriert. Gleichzeitig flossen mit der auf Nord drehenden Strömung feuchte arktische Luftmassen nach Europa ein, die von Deutschland über Ostengland und Schottland sowie in Skandinavien für einen Rückgang der Höchsttemperaturen von verbreitet 3 bis 4 Grad sorgten. In der feucht-kalten Luft hielt sich über Norwegen auch die Schauertätigkeit, wodurch 24 l/m² in Mannen und 34 l/m² in Bjorli gemessen werden konnten.

Deutlich extremer als die mit dem Tief HERWART einhergehenden Temperatur- und Niederschlagswerte fiel jedoch die Geschwindigkeit des meist aus West bis Nordwest wehenden Windes aus. In Deutschland traten die kräftigsten Böen in den Morgenstunden des 29.10. auf. Damit befand sich Deutschland auf der Westseite des Orkans HERWART und damit im Bereich der größten Isobarendrängung, also in einem Gebiet mit einem hohen horizontalen Gradienten des Luftdruckes, welcher die ausgleichende Strömung beschleunigt. Dabei wurde nicht nur auf den Bergen und an den Küsten Orkanstärke registriert. Auch in tieferen Lagen und im Flachland konnten mitunter Böen der Stärke 11 oder 12 verzeichnet werden, wie beispielsweise in Berlin-Schönefeld und in Wittenberg mit jeweils 126,1 km/h. Die höchsten Windgeschwindigkeiten wurden währenddessen mit 172,9 km/h auf dem Brocken und 176,5 km/h auf dem Fichtelberg gemessen. Bis zum Abend ließ der auf Nord drehende Wind zwar schließlich nach, verblieb aber in Böen meist im Bereich der Stärken 7 bis 9, d.h. vereinzelt wehte der Wind weiterhin mit Sturmstärke.

In seiner Verlagerung nach Osten nahm das Sturmtief HERWART den sich abschwächenden Wirbel GRISCHA in seine Zirkulation auf und befand sich am 30.10. um 01 Uhr MEZ knapp östlich von Minsk mit einem Kerndruck von etwa 980 hPa. Das Frontensystem bestand zu diesem Zeitpunkt lediglich aus einer Luftmassengrenze, welche zunächst als Okklusion vom Kern nach Süden verlief, über der südlichen Ukraine Kaltfrontcharakter annahm und anschließend in einem Bogen über das westliche Schwarze Meer, Bulgarien, Nordgriechenland und Albanien bis über die Adria führte. Dort begann die Front sich wellenförmig zu deformieren, wobei ein neues Tief entstand, welches große Teile des Frontensystems aufnehmen sollte. Die mit der nördlichen Strömung einfließende Arktikluft sorgte nun auch in Osteuropa und im Baltikum für sinkende Höchstwerte der Temperatur. Meist wurden 1 bis 3 Grad weniger als am Vortag registriert. Im lettischen Zoseni konnte mit einem Maximum von 1,4°C sogar ein Rückgang von 4,5 Grad beobachtet werden. Das dem Tief HERWART zuzuordnende Niederschlagsgebiet schwächte sich zwar ab, jedoch dort, wo der Niederschlag schauerartig verstärkt auftrat, konnten weiterhin Mengen von bis zu 20 l/m² und darüber verzeichnet werden. So wurden 12-stündig im polnischen Ketrzyn 30 l/m², im ebenfalls polnischen Mikolajki 22 l/m², 16 l/m² in Klaipeda in Litauen sowie 34 l/m² auf dem Lomnicky Stit gemessen.

Das Tief HERWART verlagerte sich bis zum Folgetag nur wenig weiter nach Osten und wurde um 01 Uhr MEZ mit einem unveränderten Kerndruck von 980 hPa südöstlich von Moskau analysiert. Die zugehörige kurze Okklusion erstreckte sich nach Osten und spaltete sich bereits nach wenigen Hundert Kilometern in eine nach Osten weisende Warmfront und eine nach Süden reichende Kaltfront, die über der östlichen Türkei in die Warmfront eines anderen Tiefs mit Zentrum über dem Seegebiet zwischen Zypern und der syrischen Mittelmeerküste überging. Das Niederschlagsgebiet konzentrierte sich nun zunehmend auf den europäischen Teil Russlands. Nennenswerte Niederschlagsmengen wurden dabei mit 16 l/m² in Klin nahe Moskau, 18 l/m² in Dimitrowgrad im Oblast Uljanowsk und 27 l/m² in Weliki Nowgorod südlich von St. Petersburg registriert.

Das Tief HERWART befand sich am 01.11. nur wenig weiter nordöstlich seiner Position vom Vortag und auch der zentrumsnahe Druck von ca. 980 hPa blieb bestehen. Nördlich der Zyklone HERWART ist ein weiteres, ähnlich kräftig ausgebildetes Tiefdruckzentrum entstanden. Diese beiden Tiefs waren dabei durch eine Okklusion miteinander verbunden. Vom nördlicheren Zentrum führte außerdem eine weitere Okklusion nach Nordosten und teilte sich westlich des Nordurals in eine nach Nordosten verlaufende Warmfront und eine nach Südosten reichende Kaltfront auf. Die Niederschläge im Bereich des Tiefdrucksystems hielten auch an diesem Tag über Russland weiter an und konzentrierten sich hauptsächlich auf den Norden und Nordwesten des Landes. In Moseyevo wurden 15 l/m², in Karpogory 17 l/m² und in Konoscha 19 l/m² verzeichnet.

Die nördliche Strömung an der Westflanke des Wirbels HERWART sorgte nicht nur in Osteuropa für sinkende Temperaturen. In Lappland stellte sich mit der Nacht zum 31.10. eine Phase extremen Frostes ein, welche durch Tiefsttemperaturen von unter -20°C gekennzeichnet war. Die Station Salla Naruska meldete beispielsweise am 01.11. um 05 Uhr MEZ ein Minimum von -24,7°C, wobei am Tage eine Höchsttemperatur von nur -15,9°C erreicht wurde.

In der Folge zog das Tief HERWART bis zum 02.11. weiter nach Norden bis zur Küste der Barentssee westlich des Nordurals. Dabei schwächte sich der Kerndruck leicht auf 985 hPa ab. Der Einfluss des Wirbels HERWART auf das europäische Wettergeschehen schwand durch seine Verlagerung und seine Abschwächung im Tagesverlauf immer weiter, wodurch es am 03.11. nicht mehr auf der Berliner Wetterkarte namentlich verzeichnet wurde. Anschließend wurde der ehemalige Orkanwirbel von einem unbenannten Tiefdruckgebiet über der Barentssee in dessen Zirkulation aufgenommen.

 

 

Geschrieben am 07.12.2017 von Sebastian Wölk

Berliner Wetterkarte: 29.10.2017

Pate: Herwart Mießner