Lebensgeschichte
Tiefdruckgebiet
INGE
(getauft
am 24.12.2020)
Am 24.12.2020 reichte ein Höhentrog
des Jetstreams, einem Starkwindband in der mittleren Atmosphäre, von
Skandinavien bis zum Ostatlantik westlich der Iberischen Halbinsel. Ein Trog
beschreibt in der Meteorologie einen Kaltluftvorstoß nach Süden. Mitteleuropa
befand sich dabei im Bereich der Trogvorderseite -
einer Lage, bei der es in der Höhe typischerweise zur Divergenz
(Auseinanderströmen) von Luftmassen und am Boden zur Konvergenz
(Zusammenströmen) von Luftmassen kommt und dadurch tiefer Luftdruck am Boden
verursacht wird. Aus der Prognosekarte der Berliner Wetterkarte für den
25.12.2020 12 UTC, also 13 Uhr MEZ, ging hervor, dass das an der Trogvorderseite über Spanien entstandene Tiefdruckgebiet,
verursacht durch eine Wellenstörung an der Kaltfront des Tiefdruckkomplexes
GRETA I – III, das Wettergeschehen Europas in den kommenden Tagen beeinflussen
würde. Aus diesem Grund entschieden sich die Meteorologen der Berliner Wetterkarte
dafür, eben jenes Tief auf den Namen INGE zu taufen.
Am ersten Weihnachtsfeiertag um 01
Uhr MEZ erschien dann Tief INGE erstmals namentlich mit einem Kerndruck von
knapp 1010 hPa im Norden Italiens nahe der Grenze zu Monaco auf der
Bodenwetterkarte. Die Warmfront der Zyklone verlief nordöstlich bis nach
Serbien und ging dort in die Kaltfront des über Litauen befindlichen Wirbels
GRETA III über. Die Kaltfront von Tief INGE erstreckte sich vom Kern aus
südwestlich nach Sardinien und weiter über den Süden Spaniens bis in den
Atlantischen Ozean. Im Norden Italiens kam es im Tagesverlauf zu teils starkem,
lang anhaltendem Regen. Bis 19 Uhr MEZ fielen in der italienischen Gemeinde San Colombano al Lambro 12 – stündige Niederschlagsmengen von 40 mm. In
Bergregionen erreichte der Wind in Böen vereinzelt Windstärke 12 auf der
Beaufortskala, also Orkanstärke, meist lagen die Spitzenböen im Bereich des
Tiefs allerdings nur bei Stärke 5 bis 7. Maximalwerte wurden auf dem 1600 m
hohen Passo di Croce Arcana, einem der höchsten
Übergänge über den Hauptkamm des Apennins, mit 217 km/h gemessen.
Bis zum Folgetag, dem zweiten
Weihnachtsfeiertag um 01 Uhr MEZ, bildete sich ein weiteres lokales
Luftdruckminimum im Bereich der Zyklone, sodass der Tiefdruckkomplex nun zwei
Kerne umfasste. Der Kern INGE I befand
sich mit einem zum Vortag fast unverändertem Bodendruck von ca. 1010 hPa über
Sardinien. Von ihm aus verlief eine Okklusionsfront, also eine Mischfront, die
durch das Einholen der Warmfront durch die Kaltfront entsteht, nach Osten
mittig durch Italien bis zum Okklusionspunkt, dem Ort an dem Kalt- und
Warmfront in Bodenniveau aufeinandertreffen, im Adriatischen Meer. Der
Okklusionspunkt befand sich im Zentrum von INGE II, dessen Kerndruck ebenfalls
knapp 1010 hPa betrug. Die Warmfront erstreckte sich von dort aus weiter nach
Osten bis nach Griechenland, die Kaltfront südwestlich über Sizilien bis nach
Marokko. In Gebirgsregionen wurden weiterhin teils Windböen der Windstärke 12 gemessen,
Spitzenwerte vermeldete die Wetterstation auf dem Gebirgspass Passo delle Radici um 07 Uhr MEZ mit Windgeschwindigkeiten von 217 km/h.
Entlang der Fronten kam es zu teils ergiebigen Niederschlagsereignissen, die
höchste 12-stündige Niederschlagshöhe registrierte die Kleinstadt Golubovci in Montenegro mit 59 mm bis 19 Uhr MEZ.
Mit leichter Verlagerung in
südöstliche Richtungen befand sich der Tiefdruckkern INGE I am 27.12.2020 um 01
Uhr MEZ mit einem Luftdruck von knapp 1010 hPa am westlichen Rande Siziliens.
Die Okklusionsfront verlief westlich der Insel im Bogen zunächst nach Norden
und schließlich östlich über Neapel bis zum am Okklusionspunkt befindlichen
Kern INGE II im Mittelmeer zwischen Italien und Albanien, dessen Bodendruck
ebenfalls circa 1010 hPa betrug. Von dort aus reichte die Kaltfront südlich bis
nach Libyen, die Warmfront überquerte Albanien und Bulgarien bis ans Schwarze
Meer. Die östliche Mittelmeerregion war weiterhin von mäßigem bis starkem
Regen, und teils von mit Gewittern verbundenen Regenschauern betroffen. In
Komiža, einer
Kleinstadt auf der kroatischen Insel Vis, wurden bis
19 Uhr MEZ innerhalb von 12 Stunden Niederschlagsmengen von 55 mm gemessen. Der
Wind hatte sich im Bereich der Zyklone abgeschwächt, und erreichte nur
vereinzelt in Böen Stärke 10 bis 11. Maximalwerte von 106 km/h wurden in der
italienischen Stadt Triest gemeldet.
Bis zum 28.12.2020 um 01 Uhr MEZ
hatte sich einer der beiden Kerne des Tiefdruckkomplexes INGE aufgelöst, der verbleibende
Kern befand sich über dem Adriatischen Meer zwischen Italien und Kroatien mit
einem Bodendruck von fast 1005 hPa. Die Zyklone lag am Rande der Zirkulation
des stark ausgeprägten Sturmtiefs HERMINE über den Britischen Inseln. Eine
Okklusionsfront verlief vom Kern aus nordöstlich über Kroatien und weiter
südlich bis nach Nordmazedonien, von wo aus die
Kaltfront weiter in südliche Richtungen das Mittelmeer überquerte, und die
Warmfront nach Nordosten bis in die Ukraine reichte. Die Okklusionsfront sorgte
in den Morgenstunden teils noch für etwas Niederschlag. In Mostar fielen bis 07
Uhr morgens 12-stündige Niederschlagsmengen von 30 mm. Im Tagesverlauf löste
sich Tief INGE dann vollständig auf, und wurde daher am Folgetag nicht weiter
namentlich auf der Berliner Wetterkarte erwähnt.