Lebensgeschichte
Tiefdruckgebiet
MARLIS
(getauft
am 29.8.2020)
Am Abend des 28.08.2020 bildete sich südlich der Alpen
über Norditalien an der Kaltfront von Tief LYNN eine Wellenstörung aus. In den
Prognosekarten der Berliner Wetterkarte (BWK) war eine Zugbahn von den Alpen in
Richtung Polen ersichtlich, so dass die Wellenstörung eine klassische Vb-Zugbahn aufnehmen wird. Ein Vb-Tief
entsteht südlich der Alpen aufgrund kälterer Luft in höheren Luftschichten und
nimmt dort Feuchtigkeit in Form von feuchter maritimer Luft auf. Von den Alpen
zieht eine solche Zyklone dann Richtung Polen, wobei sie sich abkühlt und
verstärkt. Da kalte Luft weniger Feuchtigkeit enthalten kann als warme fällt
diese dann in Form von Starkniederschlägen aus. Die Bezeichnung dieser Zyklonenzugbahn als Vb wurde von
Prof. Dr. Wilhelm Jacob van Bebber, einem deutschen Meteorologen, der von 1841
bis 1909 lebte und in der Deutschen Seewarte in Hamburg arbeitete, geprägt.
Eine andere Bezeichnung für diese Zyklonen ist Genua-Zyklone, da die
Feuchtigkeitsaufnahme und Verstärkung meist im Bereich um Genua in Italien stattfindet. Die neu entwickelte Wellenstörung brachte schon
am Abend und in der Nacht zum 29.08. vor allem im Süden der Schweiz und
Norditalien Gewitter und Niederschläge mit sich. In der Schweiz registrierten Magadino und Cadenazzo im Kanton
Ticino mit 141 mm über 24 Stunden und 50 mm innerhalb einer Stunde die größten
Niederschlagsmengen, aber auch andere Ortschaften im selbigen Kanton meldeten
beachtliche Regensummen. Bellinzona, die Hauptstadt des Kantons, maß mit 138 mm
über 24 Stunden nur unwesentlich weniger als Magadino
und auch in Lopagno und auf dem Berg Cimetta fielen mit um die 125 mm beachtliche Mengen. In
Norditalien meldete die Station San Siro Alpe Rescacia
mit 169 mm über 24 Stunden die größten Niederschlagsmengen, und in der
Lombardei in Samolaco fielen auch fast 150 mm über
denselben Zeitraum.
Am Morgen des 29.08. wurde die Wellenstörung von den
Meteorologen der BWK in der Analyse auf den Namen MARLIS getauft, unter dem
diese fortan in Wetterkarten und Wetterberichten geführt wurde. An diesem Tag
lag die noch nicht eigenständige Zyklone mit einem Kerndruck von knapp unter
1005 hPa südöstlich der Alpen und brachte weiterhin kühles und regnerisches
Wetter in die umliegenden Länder. So war der Himmel im Süden Deutschlands an
diesem Tag bedeckt bei Dauerregen. 24-stündig bis zum Morgen des 30.08. fielen
im Bereich um den Bodensee 35 mm und zwischen der Schwäbischen Alb und Passau
sowie südlich davon 10 mm bis 30 mm Niederschlag. Friedrichshafen meldete mit
42 mm eine der höchsten Regensummen über 24 Stunden. Auch blieb es in der
gesamten Südhälfte für diese Jahreszeit recht kühl, die Höchsttemperaturen
lagen vielerorts zwischen 13°C und17°C. Nachts sanken die Temperaturen im Nordwesten Deutschlands
teils auf unter 10°C, während sie in der
Lausitz nicht unter 15°C fielen.
Bis zum 30.08. entwickelte sich Tief MARLIS aus einer
Wellenstörung heraus zu einem eigenständigen Tiefdruckgebilde mit einer
umschlossenen Isobare, auch als Linie gleichen Luftdrucks bekannt. Der
Tiefdruckkern lag um 00 UTC auf der Bodenwetterkarte der BWK über dem
Ligurischen Meer mit einer nach Norden ausgeprägten Warm- und nach Süden
verlaufenden Kaltfront und einem Druck von etwa 1005 hPa und zog im
Tagesverlauf auf einer Vb-artigen Zugbahn
über Tschechien hinweg bis nach Südpolen. Die Hauptstadt von Korsika Ajaccio verzeichnete
um 00 UTC beim Durchgang der Kaltfront mit 131,5 km/h die höchste Windböe in
ganz Europa. In der Alpenregion gab es an diesem Tag schwere Regenfälle, ausgelöst
dadurch, dass in Bodennähe der Wind aus Norden kam, während der Wind in der
Höhe aus Süd-Südwest heranwehte, so dass die Unwettersituation dort weiter
anhielt. Vor allem im Piemont und Tessin wurden 24-stündige Niederschlagsmengen
von 100 bis 250 mm verzeichnet. Cevio registrierte
224,5 mm und Mosogno 220,9 mm. Mit weiterer Nordostverlagerung
der Zyklone zur Nacht hin ließen die Niederschläge auf der Südseite der Alpen
zwar nach, aber dennoch wurden teilweise noch über 60 mm 24-stündig gemessen.
Nachfolgend zog das breite Niederschlagsband auch über weite Teile Deutschlands
bis nach Berlin und Brandenburg. Die lang anhaltenden Regenfälle wurden durch
die Kaltokklusion rückseitig verursacht, und hielten in Berlin-Dahlem vom
Nachmittag des 30.08. bis in die frühen Morgenstunden des 31.08. an. Eine
Kaltokklusion ist eine Okklusionsfront, die vom Charakter her eher einer Kaltfront
ähnelt. Bei einer Okklusionsfront bildet die Vereinigung von Kalt und Warmfront
eine Mischfront, bei der der Warmsektor, der vorher zwischen den Fronten lag,
in höhere Luftschichten angehoben wird. Dabei kühlt er sich ab, und da kalte
Luft weniger Feuchtigkeit enthalten kann als warme, fällt diese dann als Niederschlag
- je nach Temperatur fest oder flüssig - aus. Die Menge, die bis zum 06 UTC Termin
des 31.08. gemessen wurde, betrug 17,5 mm.
Dieses entspricht immerhin fast 27% des Monatsnormalwertes. Es war damit an der
Station der höchste Wert des Monats August als auch des meteorologischen
Sommers sowie sogar des Jahres 2020, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.
Gleichzeitig sank die Durchschnittstemperatur für den Monat August in
Berlin-Dahlem auf 21,6°C, womit der Rekordwert aus dem Jahr 2015 mit 21,7°C nur
knapp verfehlt wurde. Im Stau des Erzgebirges kam im gleichen Zeitraum die mehr
als vierfache Niederschlagsmenge zusammen, wie z.B. in Stollberg mit 80,5 mm
oder in Hof mit 83,0 mm.
Bis zum Morgen des 31.08. zog Tief MARLIS bei etwa
gleichbleibendem Kerndruck bis über Warschau. Die Nähe zum Okklusionspunkt
verursachte im Tagesverlauf vor allem von Lublin bis Krakau und südöstlich
davon zweistellige Niederschlagssummen innerhalb 24 Stunden. Die Stadt Bielsko-Biała,
welche durch den Zusammenschluss der schlesischen Stadt Bielsko und der
kleinpolnischen bzw. galizischen Stadt Biała
entstand, vermeldete dabei die höchste Regenmenge mit insgesamt 25,6 mm bis zum
06 UTC Termin des darauffolgenden Tages. Noch höhere Mengen löste der Durchgang
der Kaltfront in der Slowakei aus, wo sich die Wolken an der Tatra stauten und
anschließend abregneten. Der dritthöchste Gipfel Chopok
vermeldete insgesamt 31,5 mm. Auch brachte die Kaltfront einen markanten
Luftmassenwechsel mit sich. So wurden im Osten der Slowakei noch vor dem
Kaltfrontdurchgang Höchstwerte von 29°C in Stropkov
erreicht, während hinter der Kaltfront im westlich gelegenen Piešťany mit 19,8°C noch nicht mal die 20-Grad-Marke
überschritten wurde.
Auf der Bodenwetterkarte der BWK vom 01.09. um 00 UTC
lag Tief MARLIS mit dem Kern und einem immer noch gleichbleibenden Luftdruck
von etwa 1005 hPa nordöstlich von Sankt Petersburg. Dessen Warmfront erstreckte
sich am frühen Morgen über den Nordosten des Kartenausschnitts an Perm vorbei,
während die Kaltfront bis Moskau reichte. Damit ließ die Zyklone Mitteleuropa
hinter sich und nahm nun Einfluss auf das Wettergeschehen in Russland. Im
Bereich des Tiefdruckkerns kamen sogar noch vereinzelt zweistellige
Niederschlagssummen zustande, wie z.B. in der nördlich von Moskau gelegenen
Kleinstadt Krasny Cholm mit
17 mm innerhalb von 12 Stunden bis zum Morgen des 01.09.. Die Kaltfront
hingegen schwächte sich merklich ab und brachte höchstens noch wenige
Millimeter Niederschlag, in Moskau blieb es beispielsweise schon gänzlich
trocken. Dafür gingen auch dort die Temperaturen merklich zurück: während am
31.08. in Moskau noch 31°C erreicht wurden, war am Folgetag die deutlich
kühlere Luftmasse, herangebracht durch die Kaltfront von MARLIS, bei nur noch
Maximalwerten von 21°C spürbar.
Im Verlaufe des 02.09. zog die Zyklone MARLIS weiter
in den nordöstlichen Darstellungsbereich der BWK bei unverändertem Kerndruck
von 1005 hPa und einer nach wie vor nach Süden reichenden Kaltfront und sich
einer nach Nordosten erstreckenden Warmfront. An diesem Tag lag der Wirbel auf
der 00 UTC Bodenwetterkarte mit Kern über Tobolsk in
Sibirien und rief dort einen wolkigen und etwas verregneten Tag hervor.
Der darauffolgende Tag, der 03.09., war der letzte Tag
an dem Tief MARLIS auf der Wetterkarte der BWK auftauchte, bevor die Zyklone
mit weiterer Nordostverlagerung endgültig vom Kartenausschnitt verschwand. Es
lag an diesem Morgen nur noch knapp auf der nordöstlichsten Ecke des Kartenausschnitts
und hatte sich sogar noch einmal auf einen Kerndruck von 995 hPa verstärkt, so
dass davon auszugehen ist, dass das Tiefdruckgebiet über Russland noch weiter
gelebt hat.