Lebensgeschichte 

 

Tiefdruckgebiet NADINE

(getauft am 08.06.2020)

 

Am 08.06.2020 befand sich ein umfangreicher Höhenwirbel in der mittleren Troposphäre 500 km südlich der Südspitze Grönlands. Dieser war eingebettet in einem stark ausgeprägten Trog, dies ist ein Vorstoß kalter Luft aus Norden, welcher die Höhenströmung von Kanada nach Südosten bis nach Großbritannien lenkte. Mit dem Höhenwirbel korrespondierend befand sich im Bodenniveau ein Tiefdruckgebiet mit einem Kerndruck von knapp unter 1000 hPa. Aufgrund der Verlagerung nach Osten in Richtung Europa und der Verstärkung des Tiefs durch den Trog analysierte die Berliner Wetterkarte, dass dieser Wirbel wetterbestimmend für Europa werden würde. Deshalb tauften die Meteorologen der Berliner Wetterkarte dieses Tiefdruckgebiet auf der Prognosekarte vom 08.06. für den 09.06. zu 12 Uhr UTC auf den Namen NADINE.

Tiefdruckgebiet NADINE lag am 09. Juni 500 km westlich vor Island mit gleichbleibendem Kerndruck. Von dort verlief eine Okklusion bogenförmig nördlich um den Kern herum nach Osten bis nach Island und weiter bis in den zentralen Nordatlantik, wo sich diese in eine Warm- und Kaltfront aufteilte. Eine Okklusion ist dabei eine Mischfront, welche entsteht, wenn die schneller ziehende Kaltfront die vorlaufende Warmfront am sogenannten Okklusionspunkt einholt und die warme Luft anhebt. Die sich bildende Luftmassengrenze weist dadurch Eigenschaften beider Frontenarten auf. Beim Durchzug der Mischfront kam es über Island und abgeschwächt über Irland und dem Norden Schottlands zu Regen. In Island hatte der Regen bereits am Vorabend, dem 08.06. eingesetzt und führte innerhalb von 12 Stunden bis 08 Uhr MESZ zu 47,4 l/m² im südöstlich gelegenen Kvísker. Vor der Okklusion zog bereits eine Warmfront über Island hinweg, die ebenfalls in 12 Stunden eine hohe Niederschlagssumme von 52,3 l/m² in diesem Ort verursachte, so dass dort 24-stündig fast 100 l/m² zusammen kamen. Im gleichen Zeitraum fielen 42,0 l/m² im Ort Laufbali und 48,3 l/m² im Dorf Hellisskarð. In den folgenden 12 Stunden konnten anschließend nochmals 28 l/m² in Lónakvísl und 18 l/m² in Laufbali registriert werden. Es kann also festgehalten werden, dass die Kombination der Warmfront und der Okklusion zumindest in den südlichen Landesteilen Islands ergiebige Regenmengen mit sich brachte. Mit der vorgelagerten sich hinter Island rasch abschwächenden Warmfront wurde jedoch auch eine warme Luftmasse nach England herangeführt, wodurch die Tageshöchstwerte der Temperatur im Süden der Britischen Inseln anstiegen. In England konnten dabei verbreitet 15°C bis 19°C, am Flughafen London Heathrow knapp über 20,0°C gemessen werden. Der Wind blieb vorerst ruhig, sodass keine Sturmböen auftraten.

Das Tief NADINE zog bis zum Folgetag um 02 Uhr MESZ nach Südosten bis etwa 500 km nördlich von Schottland. Dabei entfernte es sich zunehmend vom Höhentrog, weshalb sich der Kerndruck leicht abschwächte und rund 1015 hPa betrug. Zudem setzte in Großbritannien immer wieder leichter Regen ein. An der Messstation der schottischen Hauptstadt Glasgow wurden 11,0 l/m² innerhalb von 12 Stunden registriert. Gleiches galt auch für die Station auf der Isle of Man. Während am Tag zuvor in Schottland gebietsweise 14°C bis 17°C gemessen wurden, verzeichneten diese Gebiete nun Höchsttemperaturen von mitunter nur 9°C bis 11°C, wie beispielsweise in Tulloch Bridge mit 11,0°C oder Glen Oglemit mit 9,3°C. Auch auf den schottischen Erhebungen traten für diese Jahreszeit recht kühle Temperaturen mit Höchstwerten von 3,5°C in den Grampian Mountains auf. In der Nacht zum 11.06. konnte auf dem Cairngorms, eine Berggruppe der Grampian Mountains bei -0,4°C sogar leichter Luftfrost festgestellt werden.

Bereits am Vortag hatte sich angedeutet, dass aufgrund des weit nach Süden reichenden Trogs die Westwinddrift im westeuropäischen Raum Großteiles zum Erliegen kommen würde. Daher wurde Tiefdruckgebiet NADINE nach Süden abgelenkt und verlagerte sich zum 11.06. mit ihrem Kern bis zum südwestlichen Teil Englands mit einem Druck von ca. 1010 hPa. Vom Kern abgehend verlief eine Okklusionsfront wellenförmig nach Norden, streifte die Ostküste Islands und endete westlich der Jan Mayen Insel. Nach Südwesten hin spalteten sich eine Warmfront und kurz dahinter ein Kalt Gleichzeitig frischte in den frühen Morgenstunden der Wind auf und erreichte auf den Erhebungen Großbritanniens stellenweise über 100 km/h wie auf dem Great Dun Fell mit 107 km/h. Des Weiteren wehte der Wind auch im Flachland verbreitet mit Windstärke 6 bis 7 Beaufort. Bei einstelligen Nachttemperaturen registrierten die südwestlichen Wetterstationen Großbritanniens eine deutliche Zunahme der Niederschlagsintensität, sodass in der Nacht zum 11.06. bis 08 Uhr MESZ innerhalb 12 Stunden in der walisischen Küstenstadt Mumbles in der Nähe von Swansea 60,0 l/m² gemessen wurden. Ein ähnlicher Niederschlagswert wurde ebenfalls in Cardinham mit 55,0 l/m² erreicht. Aufgrund der Verlagerung der Zyklone NADINE nach Süden griffen die Niederschläge zunehmend auf die französische Küste über, sodass in weiterer Folge Niederschlagssummen von 31,0 l/m² in Quimper und 31,0 l/m² in Lorient auftraten. Zudem überquerte die Warmfront und die kurz dahinter folgende Kaltfront zunächst das französische Festland, bevor es am Abend im Bereich der Pyrenäen zu Stauniederschlägen kam. In der katalanischen Gemeinde Sant Joan de les Abadesses meldete die Wetterstation zwischen 19 und 03 Uhr MESZ immerhin 16,0 l/m².

In der Nacht zum 12.06. befand sich Tiefdruckgebiet NADINE mit einem Druck von unter 1000 hPa über der Biskaya. Die dazugehörige Okklusionsfront kringelte sich um den Tiefdruckkern herum bis in den Südwesten Frankreichs, wo sie sich anschließend in eine Warmfront, südostwärts bis über das Mittelmeer reichend, und eine Kaltfront, welche sich bogenförmig entlang der spanischen Ostküste, die Straße von Gibraltar passierend bis weit hinaus auf den Atlantik erstreckte, aufspaltete. Dies führte wieder zu starken Stauniederschlägen in den Pyrenäen, aber auch auf dem restlichen Festland gab es diverse Niederschlagsmeldungen. Hierbei traten vor allem konvektive Niederschläge mit größeren Niederschlagsintensitäten auf, wie in dem Gebirgsort Central de Capdella mit Niederschlagssummen von insgesamt 38,2 l/m², wobei alleine  über 20 l/m² zwischen 23 und 01 Uhr MESZ auftraten. Zusätzlich kam es im Bereich des Berges Mont Aigoual zu wiederholten Starkniederschlagsereignissen mit einer Niederschlagsintensität von bis zu 41,5 l/m² zwischen 02 und 03 Uhr MESZ. Die aufsummierte Niederschlagsmenge des gesamten Tages betrug beachtliche 308,6 l/m².  Im Vergleich dazu liegt die Jahresniederschlagssumme Berlins zwischen 550 l/m² und 600 l/m². Allerdings ist die angegebene Niederschlagsmenge am Mont Aigoual kritisch zu hinterfragen, da Starkwinde meist zu einer Überschätzung der Niederschlagsmenge führen. Für diese These spricht, dass auf dem Mont Aigoual der Wind den gesamten Tag mit Orkanböen oder orkanartigen Böen wehte. Hierbei erreichte der Wind bis zu 150 km/h um 11 Uhr MESZ. In dem in der Nähe verortenden Dorf Le Puy erreichte die gemessene Tagesniederschlagsmenge 95,2 l/m². Auch der Westen Deutschlands geriet am Abend in den Einflussbereich von Tief NADINE. Dabei kamen teilweise mehr als 10 l/m² zusammen. Bis zum Morgen des 13.06. vermeldeten Dahlem-Schmidtheim 13 l/m², Mönchengladbach-Hilderath 21,4 l/m² und Aachen/Orsbach sogar 31,4 l/m².

Am 13.06. erstreckte sich der Wirbel NADINE mit einem Kerndruck von unter 1005 hPa über der Bretagne, war inzwischen vollständig okkludiert und besaß zwei Okklusionsfronten. Die eine Okklusion verlief zunächst im Uhrzeigersinn um das Tief NADINE und überquerte dann im Tagesverlauf den Alpenraum. Die zweite Okklusionsfront reichte vom Kern nach Süden über die Biskaya bis etwa Lissabon. Dabei kam es am Nachmittag in Nordwestitalien zur zunehmenden Entwicklung von Gewittern, mit welchen kurze aber starke Niederschläge einhergingen. Im Ort Pierro erreichten die konvektiven Niederschläge Intensitäten von fast 40 l/m² pro Stunde.

An den folgenden Tagen verweilte die Zyklone NADINE nahezu stationär über der Keltischen See. Das Frontsystem veränderte sich zwar stetig, allerdings war zumeist der mitteleuropäische Raum von starken Niederschlägen betroffen. Insbesondere der 14.06., 15.06., 17.06. und lokal auch an den nachfolgenden Tagen waren Deutschland durch hohe Niederschlagssummen gezeichnet, sodass der Juni in großen Landesteilen Deutschlands sehr feucht war.

Am 14.06. zog sich das Niederschlagsband vor allem vom Bayrischen Wald bis zu den Niederlanden, wobei durch kräftige Hebungsprozesse mit schauerartig verstärkten Starkniederschlägen beispielsweise an der Station Groß Schneen im niedersächsischen Friedland 24-stündig 82,1 l/m² und in Lichtenau in Westfalen sogar 111,8 l/m² registriert wurden. Einige Wetterstationen meldeten über 200 l/m², wobei diese Angaben aufgrund der Analyse der Radarbilder als nicht sinnvoll erachtet wurden. Die Maximaltemperaturen waren insbesondere in der Südhälfte Deutschlands deutlich zu kühl, sodass im Alpenvorland meist nur 12 bis 14°C erreicht wurden.

Am 16.06. waren die Niederschläge auf die Nordalpen und das bayrische Alpenvorland beschränkt, wobei hier advektive und anhaltende Niederschläge innerhalb 24 Stunden für bis zu 66,1 l/m² an dem Kloster Maria Eck in Siegsdorf sorgten. Ähnlich verliefen die folgenden Tage, wobei immer wieder ein anderes mitteleuropäisches Gebiet betroffen war. Letztendlich schwächte sich das Tief NADINE bis zum 19.06. deutlich ab, da sich über Mitteleuropa ein neues Hochdruckgebiet namens UTZ bildete, dessen Einfluss nach Westen bis zum 20.06. erheblich zunahm.  Daher löste sich die Tiefdruckzone in der Nacht zum 20.06. auf und wurde infolgedessen ab diesem Tag auch nicht mehr auf der Berliner Wetterkarte erwähnt. Insgesamt konnte die Zyklone NADINE an 11 aufeinander folgenden Tagen auf der Berliner Wetterkarte analysiert werden, was für Tiefdruckgebiete einen recht langen Lebenszyklus darstellt.