Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet NILS

(getauft am 28.09.2019)

 

Ende September 2019 war die Großwetterlage über Europa dominiert von einer meridionalen Höhenströmung, also einem vergleichsweise wellenfreien Fluss des Windes in rund 5,5 km Höhe über dem Meeresspiegel. Diese Strömung, auch Jetstream genannt, trennt im Normalfall kalte Polarluft von wärmerer Subtropikluft. Trotz der starken Meridionalität, die auch eine rasche West-Ost-Bewegung von Bodendruckgebieten zur Folge hatte, waren auch einige kleinere Gebiete in den Jetstream eingelagert, an denen die kühlere Polarluft weiter nach Süden vordrang – diese Gebiete werden Tröge genannt. Unterhalb dieser Tröge entstehen durch Labilisierung der Luft oft Tiefdruckgebiete, wie an einem kurzwelligen Trog am 27.09. über der Insel Neufundland. Da eine Verlagerung über Europa abzusehen war, wurde das Tief NILS bereits dort auf der Bodenwetterkarte, die den atmosphärischen Zustand in Bodennähe darstellt, von 00 Uhr UTC, was 02 Uhr MESZ entspricht, des 28.09. eingezeichnet. Der Kern des Tiefs lag zu diesem Zeitpunkt wenige Hundert Kilometer nördlich der Hauptstadt St. John’s. Nördlich davon ging eine Okklusionsfront aus, sozusagen eine Kombination aus Kalt- und Warmfront, die sich südlich des Kerns in eine weitläufige Kaltfront wandelte, die ihrerseits bis vor die Küste von Virginia reichte. Zusätzlich verlief eine vergleichsweise kurze Warmfront in östlicher Richtung.

Im Laufe der darauffolgenden zwei Tage überquerte das Tiefdruckgebiet NILS unter voranschreitender Verstärkung den Nordatlantik. Um 00 Uhr UTC des 30.09. befand sich sein Kern mit einem Luftdruck von etwa 995 hPa 750 km südwestlich von Irland. Durch besagten Kern verlief die Okklusionsfront, die sich nur wenig weiter östlich in die quer über die Biskaya verlaufende Warmfront und die sich bis zu den Azoren krümmende Kaltfront aufspaltete. Neben Irland kamen an diesem Tag auch Wales und die westliche Hälfte Englands unter Einfluss des der Warmfront von Tief NILS zugehörigen Regenbandes. In den 12 Stunden bis 20 Uhr MESZ fielen besonders im Inland Irlands sowie in Nordwales flächendeckend über 20 mm Regen. Im gleichen Zeitraum bewirkte die Kaltfront eine Niederschlagssumme von 13 mm auf der Azoreninsel Santa Maria. Besonders viel Niederschlag gibt es an Frontensystemen, wenn diese auf Bergketten treffen, da dadurch wärmere Luft aus der unteren Atmosphäre nach oben gedrückt wird, abkühlt und weniger Feuchte tragen. Dadurch kondensiert die Feuchte aus und es bilden sich zusätzliche Wolken. Ein gutes Beispiel für diesen Prozess ist die Nacht auf den 1. Oktober, in der in Carlisle am Fuße der Penninen in 12 Stunden 42 mm an Regen fielen, ein sehr hoher Wert für advektiven (nicht aus Schauern entstandenen) Niederschlag.

 

In dieser Nacht lag das Zentrum von Tief NILS noch immer vor der irischen Küste, weiterhin mit knapp 995 hPa Luftdruck. Zunächst in südlicher Richtung davon abzweigend lag eine Kaltfront, die wenig nordwestlich der Iberischen Halbinsel nach Westen abschweifte. Die Warmfront überquerte, ebenfalls vom Zentrum aus, Irland und England, ehe vor der Küste Norfolks eine weitere Kaltfront von ihr abzweigte, die über dem Ärmelkanal kurzzeitig die Bewegungsrichtung änderte. An der besagten Verzweigungsstelle entwickelte sich im Tagesverlauf ein weiteres Tiefdruckzentrum, NILS II genannt, das um 12 Uhr UTC ziemlich genau über Hamburg lag. Der Druckgradient verschärfte sich am Vormittag, so dass im Harz und im Riesengebirge Windböen von 100 km/h und mehr gemessen wurden. Lokal wurden, zum Beispiel in Leipzig, auch abseits der Mittelgebirge Windböen um 60 km/h registriert, was Windstärke 7 entspricht. Im Vergleich zum Sturmtief MORTIMER vom 29./30.09. waren diese Werte aber vergleichsweise gering. Dagegen lieferte die Abfolge von Warm- und Kaltfront dem Nordwesten Deutschlands teils sehr kräftige Regenfälle. 24-stündig bis zum darauffolgenden Morgen wurde im niedersächsischen Diepholz sogar ganz knapp die 50-mm-Marke übertroffen.

Bis zum nächsten Tag blieben die beiden Teiltiefdruckgebiete erhalten: das Tief NILS II lag um 00 Uhr UTC am 02.10. über der Ostseeküste Polens, das Tief NILS I etwa über Berlin. Beide hatten einen Kerndruck von knapp 1000 hPa und waren durch eine Okklusionsfront verbunden. Diese verlief auch östlich vom Kern NILS II weiter und spaltete sich über Litauen in eine südwestlich über Warschau verlaufende Kalt- und eine nach Südosten reichende Warmfront auf. Südwestlich des Tiefs NILS I reichte zusätzlich noch eine schwach ausgeprägte Kaltfront bis über den Ärmelkanal. Weil die beiden Tiefdruckgebiete im Tagesverlauf ostwärts zogen, wurde das dieser Kaltfront zugehörige Feuchteband zuerst gegen die deutschen Mittelgebirge und in der Folge gegen die Alpen gedrückt, sodass in Oberbayern teils Regensummen über 20 mm in 12 Stunden bis 20 Uhr MESZ zusammenkamen. Aus der vorlaufenden Kaltfront von Tief NILS II, die sich nach einem kurzen Warmfrontanteil bis nach Norditalien zog, entwickelte sich zum Nachmittag eine kräftige Gewitterlinie vom Burgenland bis nach Rom, entlang derer ebenfalls beträchtliche Niederschlagssummen fielen. Drei weit verteilte Messstationen registrierten über 50 mm im obigem 12-Stunden-Intervall: Kleinzicken im Burgenland mit 74 mm, Zadar in Kroatien mit 65 mm sowie Frosinone in Italien mit ebenfalls 65 mm. Im norddeutschen Raum war der Regen wenig spektakulär, aber an diesem Tag war es mit meist unter 15°C deutlich kühler als der Vortag, an dem noch verbreitet 20°C gemessen wurden.

Auf der Bodenwetterkarte der Nacht auf den 03.10. wurde wiederum nur ein einzelnes Tiefdruckgebiet NILS mit Zentrum über Weißrussland und einem abgeschwächten Zentrumsdruck von rund 1003 hPa verzeichnet. Niederschlagszentren waren zum einen die Chiemgauer und Berchtesgadener Alpen, zum anderen Südostpolen und die östliche Slowakei entlang der Kaltfront. Im Kaltluftsektor wurden teilweise unter klarem Himmel kalte Tiefsttemperaturen gemessen, wie zum Beispiel 1,3°C im polnischen Piła. Dort sank sie am Boden sogar auf -1°C – die Lufttemperatur wird generell in 2 m über dem Erdboden gemessen. Am Tag fiel der Großteil der durch Tief NILS verursachten Niederschläge dann auf der Westseite der rumänischen Karpaten (Târgu Neamț mit 29 mm durch die Kaltfront) bzw. zwischen Moskau und St. Petersburg (Borowitschi mit 17 mm durch die Warmfront).

Am 04.10. um 00 Uhr UTC lag das Tief NILS rund 500 km östlich von St. Petersburg. Wie auch am Vortag war die Frontenlage nun deutlich einfacher als über Zentraleuropa. Vom Tiefzentrum aus verlief eine Warmfront über das Uralgebierge, während die Kaltfront in südsüdwestlicher Richtung bis zum Donaudelta zog. Während entlang der Fronten jeweils maximal etwa 15 mm Niederschlag in 12 Stunden fielen, bildete sich an der Kaltfront über Bulgarien ein weiteres Randtief aus, welches im Raum Istanbul für kräftigen Regen sorgte. Auch in den darauffolgenden zwei Tagen war das Tief NILS auf der Berliner Wetterkarte noch über Russland zu finden und befand sich auf einem stetigen Nordostkurs, auf dem es sich am 06.10. von der Berliner Wetterkarte entfernte.