Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet ORTRUN

(getauft am 08.04.2016)

 

Am 6. April 2016 trat ein unbenanntes Tiefdruckgebiet mit Kern südöstlich von Neufundland von Westen her in den Analysebereich der Berliner Wetterkarte. Derweil befand sich im 500-hPa-Niveau, in einer Höhe von ca. 5,5km, ein ausgeprägter Höhentrog, also ein Kaltluftvorstoß nach Süden, dessen Achse bis über Neufundland hinausragte und auf dessen Vorderseite sich das unbenannte Tiefdruckgebiet verstärkte und der Höhenströmung in Richtung Nordosten folgte. Im Laufe des Tages sank der Kerndruck von etwa 1005 hPa auf ca. 985 hPa bis zum Folgetag. Zum Nachttermin um 00 Uhr UTC, also 01 Uhr MEZ, am 8. April wurde das Tiefdruckgebiet, welches sich bis zu diesem Zeitpunkt zu einem Orkantief entwickelt hatte, in der Analyse auf den Namen ORTRUN getauft. Ein Orkantief wird als solches bezeichnet, sobald es Bodenwinde der Stärke 12 auf der Beaufortskala, also etwa 117,7 km/h, hervorbringt. Dies erkennt man auch anhand der starken Drängung der Isobaren, also der Linien gleichen Luftdruckes. Liegen die Isobaren enger aneinander, so ist der Druckgradient größer und damit der Wind stärker. Bis zum Tauftag zog das Tief ORTRUN mit hoher Zuggeschwindigkeit bis an die Südspitze Grönlands. Dort wurden am 8. April Windspitzen in Höhe von 122 km/h an der Station Prins Christian Sund, eine Meerenge, die das Festland von der Inselgruppe Kap Farvel trennt, gemessen. Am Flughafen Kulusuk wurden sogar Böen in Höhe von 165 km/h verzeichnet. Bis zum Südwesten Islands konnte man die Luftdruckgegensätze registrieren. Dort wurden immerhin noch Sturmböen von 96 km/h an der Station  Keflavik verzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt war die Zyklone ORTRUN bereits zum Teil okkludiert. Östlich vom Kern ausgehend verlief die Okklusionsfront in einem Bogen nach Südosten bis zum Okklusionspunkt, der sich etwa 300 km südöstlich von Reykjavik befand. Ein  Okklusionspunkt stellt den Ort dar, an welchem die schneller ziehende Kaltfront die vor ihr ziehende Warmfront einholt. Somit entsteht mit der Okklusion ein Frontentyp, der die Eigenschaften von Kalt- und Warmfront in sich vereint. Ab diesem Punkt verläuft die Kaltfront bogenförmig Richtung Süden, wo sie sich mitten über dem Atlantik mit einer Warmfront eines unbenannten, derzeit nicht auf dem Darstellungsbereich der Berliner Wetterkarte befindlichen, Tiefdruckgebietes verband. Die vordere Warmfront erstreckte sich ebenfalls in die gleiche Himmelsrichtung wie die Kaltfront. Der relativ schmale Warmluftsektor zwischen den beiden Fronten spricht dafür, dass die Kaltfront die Warmfront schon fast vollständig eingeholt hat. Die Entwicklung zum Orkantief war allerdings nur von kurzer Dauer: schon zum darauffolgenden Tag schwächte sich das Tief ORTRUN ab und die Luftdruckgegensätze schwanden zunehmend.

Bis zum nächsten Tag um 00 Uhr UTC überquerte die Okklusionsfront Irland und Teile Großbritanniens. So fielen innerhalb 6 Stunden 2 bis 8 l/m² an der Westküste Großbritanniens und 12-stündig 1 bis 6 l/m² in ganz Irland. Im walisischen Valley und auf der englischen Landzunge an der Küste Cumbria namens St. Bees Head wurden 8 l/m² und auf dem südirischen Johnstown Castle 6 l/m² gemessen. Auch der Nordwesten der Bretagne wurde bis zu diesem Zeitpunkt von der Okklusionsfront von Tief ORTRUN überquert. Dort wurden in Brest ebenso innerhalb 6 Stunden bis zu 5 l/m² verzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Zyklone in zwei Kerne aufgespaltet. Der östlichere Kern befand sich mit einem Kerndruck von ca. 995 hPa über dem nordatlantischen Ozean zwischen Großbritannien und Island. Die Okklusionsfront verlief östlich vom Kern bogenförmig nach Süden über die Westküste Großbritanniens, den Ärmelkanal, die Bretagne, streifte die Nordwestküste Spaniens und ging schließlich über dem Atlantik erst in eine Kaltfront und dann in eine Warmfront über. Der zweite, westlichere Kern des Tiefs ORTRUN war mit einem Kerndruck von ungefähr 990 hPa etwa 1000 km westlich vom Tief ORTRUN I über dem Nordatlantik lokalisiert. Deren Okklusionsfront umlief den Kern nördlich und endete im Nordwesten kurz vor dem Wirbel ORTRUN I. Die Drängung der Isobaren westlich des Kerns II war weiterhin stark ausgeprägt. Allerdings nahmen die Luftdruckgegensätze über dem Land, beeinflusst durch den östlicheren Kern, zunehmend ab, so dass an den Küsten am Ärmelkanal nur noch 50 bis 65 km/h, ganz vereinzelt auch noch Sturmböen bis 89 km/h auf Quessant, einer französischen Insel vor der bretonischen Küste im Atlantik, registriert wurden. Weiterhin verdrängten die vom Tief ORTRUN mitgeführten maritimen kühleren Luftmassen arktischen Ursprungs die maritime Subpolarluft nach Osten. So fielen die Maximaltemperaturen innerhalb eines Tages in Irland und auf der Westhälfte Großbritanniens von 10 bis 12°C auf 7 bis 10°C. Während sich in der Höhe ein ausgeprägtes abgeschlossenes Höhentief über dem Nordatlantik, Irland und Großbritannien ausbildete, zog der Wirbel ORTRUN II mit seinem Frontensystem mit der Höhenströmung weiterhin korrespondierend zum Höhentief nach Süden. Das Tief ORTRUN I löste sich derweil auf bzw. sorgte im Umkreis für die Bildung weiterer Tiefdruckgebiete.

Nun wieder nur mit einem Kern lag die Zyklone ORTRUN am 10. April um 00 Uhr UTC über der Keltischen See. Mit unverändertem Kerndruck von etwa 995 hPa verlief eine kurze Warmfront etwa 500 km südwärts bis kurz vor das nordspanische Festland. Hinter einem schmalen Warmluftsektor folgte ca. 250 km weiter westlich eine Kaltfront, die sich vom Kern ungefähr 2500 km nach Südwesten über den nordatlantischen Ozean bog. An diesem Tag sorgte der ostatlantische Tiefdruckwirbel ORTRUN über Westeuropa für wechselhaftes Wetter mit einzelnen Schauern. Das Frontensystem überquerte im Tagesverlauf den Westen Frankreichs sowie Portugal und Spanien. In der Westhälfte Frankreichs kamen bis zum Folgetag um 00 Uhr UTC innerhalb 6 Stunden 2 l/m² in Niort, bis 9 l/m² in Caen und 12 l/m² in Bergerac zusammen. Ähnliche Niederschlagsmengen gab es innerhalb der vergangenen 24 Stunden in Spanien mit 1 bis 14 l/m², mit Ausnahme einer kleinen Hafen- und Industriestadt im Nordwesten Spaniens namens Vigo. Dort verzeichnete man 32 l/m², in La Coruña 23 l/m² und das portugiesische Städtchen Viseu wies im gleichen Zeitraum mit einer Regenmenge von 30 l/m² die größte Niederschlagsmenge in ganz Portugal auf. Noch mehr regnete es in Irland: der Cork-Flughafen meldete 45 l/m² in 24 Stunden. Auch in der Dauer des Sonnenscheins spiegelte sich das regnerische Wetter im Nordwesten Frankreichs wieder: so wurden beispielsweise in Caen nur 3 Sonnenstunden registriert, während in Paris 10 Stunden Sonne verzeichnet wurden. Durch die Drehung eines Tiefdruckgebietes gegen den Uhrzeigersinn gelangten erwärmte maritime Luftmassen subpolaren Ursprungs nach Spanien und Portugal. Dadurch wurde die dort vorher befindliche maritime Subtropikluft nach Südosten verdrängt. Das macht sich vor allem bei den Temperaturen in der regnerischen Nordwesthälfte Spaniens und Portugal bemerkbar. Während sich am Vortag dort noch Höchstwerte von 11 bis 16°C befanden, wurden an diesem Tag vereinzelt nur noch 8 bis 10°C, wie z.B. im portugiesischen Viseu oder im spanischen La Coruña, erreicht. An der Südostseite von Tief ORTRUN war es in einer Südwestströmung noch verhältnismäßig warm. Verbreitet stieg dort die Temperatur bei 10 bis 12 Sonnenstunden an der Ostküste Spaniens über 20°C. In Murcia wurde mit 24,9°C die Marke für einen Sommertag nur knapp verfehlt.

In den kommenden Tagen verlagerte sich der Kern vom umfangreichen Tief ORTRUN korrespondierend zum weiterhin darüberliegenden Höhentief nur noch wenig, so dass die unbeständige Wetterlage in den bereits beeinflussten Gebieten andauerte. In der Nacht des 11. Aprils befand sich das Tief ORTRUN nur wenige Hunderte Kilometer nordwestlich seiner vorherigen Position. Die okkludierte Front verlief nordwärts um den Kern, bis sie etwas südlich der Irischen See in eine Kaltfront überging, die wiederum über dem französischen Tours in die Warmfront eines unbenannten Tiefdrucksystems mit Kern über Bordeaux überging. Entlang der Front schien an diesem Tag vielerorts gar nicht oder maximal nur 1 Stunde die Sonne, wie z.B. in Paris, am Londoner Flughafen Heathrow oder in Dublin. Dort wies der sehr verregnete Wettercharakter 24-stündige Niederschlagsmengen in Höhe von 3 bis 8 l/m² auf. Am Flughafen Dublin fielen sogar im selben Zeitraum 39 l/m². Im Südwesten Englands, Wales sowie im Westen Frankreichs konnte man ähnliche Regenmengen von 3 bis 15 l/m² registrieren.

Bis zum Folgetag blieb das weiterhin mit einem unverändertem Kerndruck von etwa 990 hPa westlich der Biskaya positionierte umfangreiche Tief ORTRUN in seiner Lage stationär und in seiner Intensität stabil. Am nordwestlichen Rand von Tief ORTRUN erstreckte sich die Okklusionsfront bogenförmig zunächst nord-, dann ostwärts bis zum Bristolkanal, wo sie schließlich in die Okklusionsfront eines Teiltiefs über Südengland überging. Am Rande dieses Tiefs wurde mit einer südwestlichen Strömung erwärmte Meeresluft  nach West- und Mitteleuropa gelenkt. Diese Luftmasse zeichnete sich durch eine labile Schichtung aus, in der sich bei entsprechendem Hebungsantrieb Schauer und Gewitter bilden konnten. So brachten beispielsweise starke Gewitter um 20 Uhr UTC in der nordfranzösischen Gemeinde Boos am Flughafen Rouen eine einstündige Niederschlagsmenge um 21 Uhr UTC von 5 l/m² hervor.

In den folgenden 24 Stunden änderte sich die Konstellation in der mittleren Troposphäre über dem atlantisch-europäischen Raum nicht wesentlich. Unverändert lag am 13. April ein Zentraltief über dem Seegebiet südwestlich von Irland, das am Boden mit dem Wirbel ORTRUN korrespondierte. Unter leichter Abschwächung des Kerndrucks verlagerte sich das Tief ORTRUN etwas nach Norden. Dabei beeinflussten die umgebenden Tiefdrucksysteme weiterhin West- und Mitteleuropa. Die am östlichen Rand gelegene Okklusionsfront hatte allerdings nur noch sehr geringen Einfluss auf das Festland. So fiel in Südirland bei 4 bis 6 Sonnenstunden innerhalb 24 Stunden bis zum Folgetag um 00 Uhr UTC 3 bis 9 l/m².

Bis zum 14. April blieb der Kern von Tief ORTRUN nahezu stationär. Die nördlich gelegene Okklusionsfront löste sich rasch im Tagesverlauf auf, so dass das Tief mit Kern über dem ostatlantischen Ozean im Großen und Ganzen nicht mehr wetterwirksam auf Westeuropa war.

In den darauffolgenden Tagen zog der Tiefdruckkern ohne Fronten weiter Richtung Westen über den Atlantik bis das Tief ORTRUN am Abend des 16. Aprils und in der Nacht auf den 17. April mit einem abgeschwächten Kerndruck von etwa 1014 hPa die Azoren überquerte. Es löste besonders auf den Inseln Terceira und São Miguel, der größten Insel der Azoren, immer wieder mäßige bis starke Gewitter mit teilweise Starkregen aus. So wurde in der Hauptstadt Ponta Delgada auf São Miguel um 3 Uhr UTC am 17. April 1-stündige Niederschlagsmengen von 15 l/m² verzeichnet.

Im weiteren Tagesverlauf löste sich das Tiefdruckgebiet vollständig auf. Infolgedessen konnte das Tief ORTRUN am 17. April das letzte Mal als eigenständiges Tiefdruckgebilde auf der Berliner Wetterkarte verzeichnet werden.


 

Geschrieben am: 31.07.2016 von Lisa-Marie Schulze

Berliner Wetterkarte: 10.04.2016

Pate: Ortrun Wenzel