Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet REINHARD

(getauft am 20.11.2017)

 

Zu Beginn der zweiten Novemberdekade bestimmten subpolare und polare Luftmassen das Wettergeschehen über Skandinavien, Mitteleuropa und der Balkanhalbinsel, während West- und Südeuropa unter Einfluss subtropischer Luft standen. Getrennt wurden die Luftmassen durch die sogenannte Frontalzone, welche sich zu diesem Zeitpunkt von Grönland aus über Island und die Nordsee bis zum südlichen Balkan erstreckte.

Entlang dieser Front, so prognostizierten es die verschiedenen Wettermodelle, sollte es in der Nacht zum 21. November zu einer Zyklogenese westlich der Britischen Inseln kommen. Eine Zyklogenese bezeichnet den Entstehungsvorgang eines Tiefdruckgebiets. Das entstehende Tief würde sich dann rasch zu einem Sturmwirbel über der Nordsee bzw. der Norwegischen See weiterentwickeln und an den folgenden Tagen auch Einfluss auf das Wetter in Mitteleuropa nehmen. Unter anderem sagten die Prognosen eine Advektion milder Subtropikluft aus dem Mittelmeerraum in Richtung Mitteleuropa und Skandinavien voraus. Folglich wurde das Tief am 20. November auf den Namen REINHARD getauft.

Erstmals analysiert werden konnte der Wirbel in den Frühstunden des 21.11. mit Zentrum ca. 750 km westlich der Britischen Inseln und einem Kerndruck von etwas weniger als 1000 hPa. Die Ausläufer des Tiefs erstreckten sich zu diesem Zeitpunkt als Warmfront vom Zentrum aus in südöstliche Richtungen über Britannien, wo diese in die Kaltfront des Tief QUINTUS überging. Die Kaltfront der Zyklone REINHARD verlief dagegen südwestwärts an der nordirischen Küste entlang. Bereits in der Nacht zum 21. November war es an der Warmfront über Irland, Wales und Nordengland zu Niederschlägen gekommen, die mengenmäßig bei 5 bis 10 l/m² in 12 Stunden lagen. Tagsüber setzten sich Niederschläge mit ähnlicher Intensität fort, wobei sich der Regenschwerpunkt mit dem Tiefdruckzentrum in Richtung Schottland verlagerte. Auch über Deutschland und den Benelux-Ländern bis nach Tschechien und der Slowakei fiel schwacher, teils mäßiger Regen, so wie etwa in Braunschweig mit 9 l/m² innerhalb einer 12-stündigen Messperiode. Der Regen stand in Zusammenhang mit der Warmfront, wurde aber maßgeblich durch das eingelagerte, kleine Wellentief QUINTUS verursacht. In der sich anschließenden Nacht drangen die Warmfrontniederschläge weiter über Mitteleuropa voran, wodurch in Hamburg bis zu 5 l/m² Regen gemessen werden konnte und erfassten auch das südliche Skandinavien, was in Kopenhagen bis zu 10 l/m² mit sich brachte sowie abgeschwächt sogar noch das südöstliche Europa, wodurch in Bratislava beispielsweise 3 l/m² fielen. Gleichzeitig erreichten neue Regenschauer im Zusammenhang mit der Kaltfront von Südwesten her Irland und Wales. In Dublin fielen sogar bis zu 24 l/m².

Unterdessen verstärkte sich Tief REINHARD bis zum Morgen des 22. November zu einem Sturmtief mit einem Kerndruck von knapp unter 985 hPa. Vor allem südöstlich des Kerns zwischen den Britischen Inseln, der Nordsee und der Norwegischen See, aber auch über Westfrankreich frischte der Wind mit verbreitet Sturmböen auf, dabei wurden am Londoner City Airport Böen bis 76 km/h gemessen. In Küstennähe bzw. im höheren Bergland wurden auch schwere Sturmböen, teils sogar orkanartige Böen von über 100 km/h registriert, so wie im walisischen Prembrey Sands mit bis zu 106 km/h. Gleichzeitig überquerte die Kaltfront bis zum folgenden Tag die Britischen Inseln südostwärts, lokal mit teils beachtlichen Niederschlagsmengen von 32 l/m² in Dublin und 67 l/m² in Shap. Im Zusammenhang mit dem weiter in Richtung Norwegische See ziehenden Tiefdruckkern wurde auch Südskandinavien von kräftigen Regenfälle erfasst, wobei etwa in Oslo 11 l/m² und in Lillehammer 18 l/m² bis zum Abend fielen. Hier intensivierten sich die Niederschläge in den Abend- und Nachtstunden weiter. Beispielsweise regnete es im norwegischen Bergen bis zum darauf folgenden Morgen zwölfstündlich 28 l/m², im benachbarten Fossmark gar 44 l/m². Weitaus geringer blieben die Niederschläge entlang der sich über Mitteleuropa langsam nordostwärts schiebenden Warmfront, mit Niederschlägen von 4 l/m² im polnischen Lodz und 3 l/m² in Greifswald.

Bis zum Morgen des 23. November hatte sich Tief REINHARD zu einem umfangreichen Tiefdruckkomplex über Nordwesteuropa mit drei Kernen entwickelt. Der Kern REINHARD I befand sich dabei nördlich von Irland, und Tief REINHARD III über Nordengland, beide mit jeweils unter 980 hPa Kerndruck. Vor der Küste Westnorwegens lag Tief REINHARD II mit knapp unter 975 hPa Kerndruck. Die Warmfront spannte sich zu diesem Zeitpunkt ausgehend vom Zentrum ostwärts über Südskandinavien bis nach Polen und Rumänien. Die Kaltfront hingegen verlief in südwestliche Richtungen über Großbritannien hinweg bis zum nahen Ostatlantik. Mit dem weiteren Vordringen der Fronten gelang Skandinavien in den folgenden Stunden unter Einfluss der Zyklone. Ein böiger Wind erfasste neben der Westküste und den Bergregionen Norwegens, wo es zu Böen bis hin zur Orkanstärke von über 118 km/h kam, auch Schweden und Finnland mit verbreitet starken bis stürmischen Böen und einzelnen Sturmböen. Dazu breiteten sich mit der Warmfront teils kräftige Niederschläge rasch nordwärts über Schweden bis nach Finnland aus. Anfangs fiel Schnee, der mit ansteigenden Temperaturen bald in Schneeregen und Regen überging. Verbreitet wurden zweistellige Niederschlagsmengen beobachtet, wie etwa in der nordschwedischen Hafenstadt Lulea mit 13 l/m² zwischen 06 und 18 Uhr UTC, was zwischen 07 und 19 Uhr MEZ bedeutet. In der postfrontal einfließenden Meeresluft subtropischen Ursprungs stiegen die Temperaturen über Skandinavien nahe oder knapp über 10°C, wie in Göteborg mit 11,3°C, während vor der Front in arktischer Kaltluft das Thermometer über Lappland kaum mehr als -10°C zeigte, wodurch beispielsweise in Kiruna nur -9,9°C gemessen wurde. Das Sturmfeld der Zyklone REINHARD erfasste im Übrigen auch die Benelux-Staaten sowie Nord- und Nordwestdeutschland mit Böen bis Stärke 9 auf der Beaufort-Skala. Dabei wurden beispielsweise im belgischen Zebrugge und auch in Hamburg Böen mit bis zu 76 km/h gemessen, in Rotterdam waren es 80 km/h, am Kieler Leuchtturm 91 km/h. Der stürmische Süd- bis Südwestwind flaute über Mitteleuropa, wie auch über Skandinavien, in der Nacht zum 24. November allmählich ab.

In den Frühstunden des 24. November erreichte der Sturmwirbel den Höhepunkt in seiner Entwicklung. Das Zentrum mit einem Luftdruck von knapp unter 970 hPa befand sich dabei zwischen Island und Mittelnorwegen. In den folgenden Tagen verblieb die Zyklone REINHARD quasi stationär über der Norwegischen See. Der zyklonale Drehsinn gegen den Uhrzeigersinn des Tiefdruckwirbels führte dazu, dass feuchtkühle Meeresluft gen Britische Inseln transportiert wurde. Im Gegensatz dazu gelangte subtropische Atlantikluft nordwärts Richtung Mitteleuropa und Skandinavien. Gleichzeitig drangen die Ausläufer des Tiefs langsam weiter ostwärts voran, wobei sich Warm- und Kaltfront über Skandinavien und dem Baltikum zur Okklusion vereinigten. Als Okklusion wird dabei eine Mischfront bezeichnet, bei welcher die schneller ziehende Kalt- die vorlaufende Warmfront einholt und vom Boden anhebt. Während also am 24.11. über den Britischen Inseln bei einem Sonne-Wolken-Mix gegenüber dem Vortag kühlere Temperaturen von durchschnittlich 7 bis 8°C, über Schottland und Irland auch unter 5°C, beobachtet wurden, erwärmte sich die Luft über weiten Teilen Deutschlands bis nach Polen und Tschechien auf angenehme 10 bis 15°C, mit Sonnenunterstützung in Süddeutschland auch bis auf 17°C, so wie in München und Stuttgart. In einem breiten Streifen von Frankreich über West- und Mitteldeutschland bis nach Schweden und Finnland dominierten dagegen dichte Wolkenfelder und zeit- und gebietsweise fiel etwas Regen. Es waren zwei Niederschlagsschwerpunkte auszumachen: Zum einen breitete sich schwacher-mäßiger Regen von Nordfrankreich über die Benelux-Staaten nach Deutschland aus, wobei meist 5 bis 10 l/m² in 12 Stunden gemessen wurden, wie beispielsweise in Hannover mit 7 l/m². Zum anderen setzten sich über dem Norden des Fennoskandischen Raums die Niederschläge des Vortags weiter fort. Hier sorgten die teils mäßig bis starken Schneefälle für einen Zuwachs der ohnehin schon einige Dutzend Zentimeter mächtigen Schneedecke.

Auch wenn sich die Zyklone in den folgenden Stunden spürbar abschwächte und der Luftdruck im Zentrum zwischen dem 25. und 26.11. 00 UTC um rund 15 hPa stieg, bestimmte Tief REINHARD weiterhin das Wetter über dem Fennoskandischen Raum und weiten Teilen West- und Mitteleuropas. So setzten sich die Niederschläge entlang der Luftmassengrenze, die mittlerweile vom äußersten Nordwesten Russlands über das Baltikum, Polen und Deutschland bis zu den Westalpen reichte, am 25.11. fort. Die Niederschlagsintensitäten blieben dabei mit rund 10 l/m² bis über 20 l/m² innert 12 Stunden auf ähnlichem Niveau wie an den Vortagen. Beispielweise wurden in Bern 16 l/m² oder in Grenoble 20 l/m² zwischen 06 und 18 UTC registriert. Rückseits der Front entwickelten sich in der einströmenden maritimen Subpolarluft, bei Temperaturen von zumeist 4 bis 8°C, örtlich noch einzelne Schauer. Diese brachten etwa in Brüssel 12 l/m², in London aber nur 0,2 l/m². Die feuchtkühle Meeresluft über Skandinavien sorgte vielfach für leichte Plusgrade. In Stockholm wurden zum Beispiel Höchstwerte von 2°C gemessen, im finnischen Lappland am Polarkreis, in der Stadt Rovanemi, 1°C.

In der weiteren Entwicklung wurde beobachtet wie sich die Niederschläge entlang der frontalen Strukturen immer mehr auf bestimmte Bereiche, etwa den Ostalpen, den Westbalkan oder auf das Baltikum und Finnland konzentrierten. Ursache war die Bildung eigenständiger neuer Tiefs im Bereich der Luftmassengrenze. Im Umkehrschluss bedeutete dies aber auch, dass Tief REINHARD immer mehr die Verbindung zu seinen Ausläufern verlor. Dies geschah spätestens am 26. November mit weiterer Luftdruckzunahme über dem Skandinavischen Raum.

Nichts desto trotz blieb der kühle Wettercharakter über Skandinavien und Zentraleuropa, mit einem Sonne-Wolken-Mix und nur wenigen lokalen Schauern auch an den folgenden Tagen erhalten. Der Wirbel selbst zog ohne größeren Wettereinfluss über Südskandinavien in Richtung Finnland, wo er sich bis zum 28.11. vollständig auflöste.

 


geschrieben am 08.03.18 von Gregor Pittke

empfohlene BWK: 23.11.2017

Pate: Reinhard Richter