Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet TANJA

(getauft am 10.04.2020)

 

Anfang April 2020 war das Wetter in Mitteleuropa von beständigem hohem Druck geprägt. Nahtlos folgten die Hochdruckgebiete KEYWAN, LORIS und MAX aufeinander und lenkten mehrere atlantische Tiefdruckgebiete nördlich über Skandinavien. Ein solches wurde von den Meteorologen der Berliner Wetterkarte am 10. April für die Mittagszeit des 11. April über dem Europäischen Nordmeerraum zwischen Island und Norwegen prognostiziert und auf den folgenden Namen in der alphabetischen Liste, TANJA, getauft.

Täglich wird bei der Berliner Wetterkarte mit den Messdaten von 00 Uhr UTC bzw. 02 Uhr MESZ eine Bodendruckkarte für Europa und den Nordatlantik erstellt. Auf jener des 11. April war Tief TANJA zwar noch nicht namentlich verzeichnet, aber schon als ostwärtige „Ausbuchtung“ eines 995 hPa starken Tiefdruckwirbels an der Südspitze von Grönland zu erkennen. Diese lag östlich eines Troges, also eines Richtung Äquator zeigenden Mäanders des Jetstreams (das Starkwindband in einer Höhe zwischen 5 und 10 km über Grund). Eine solche Lage ist für die Entwicklung von Tiefdruckgebieten grundsätzlich förderlich, weil durch das Auseinanderströmen der Luft in höheren Luftschichten dort kompensatorisch Luft vom Boden aufsteigt, wodurch wiederum der Luftdruck in Bodennähe sinkt. Infolge eines solchen Prozesses hatte das zukünftige Tief Tanja bis zum Abend ein eigenständiges Druckzentrum ausgebildet und war um 00 Uhr UTC am 12.04. bereits als steuerndes Tiefdruckzentrum mit 995 hPa vor der Küste Norwegens verortet. Die für ein Tiefdruckgebiet üblichen Fronten übernahm Tief TANJA von dem mittlerweile aufgelösten Tief südlich von Grönland, und ebenjene sorgten bereits tagsüber am 11. April für Regen an der auch normalerweise verregneten Westküste Norwegens, der lokal auch in die Nacht anhielt. In 24 Stunden bis 06 Uhr UTC am 12. April wurden beispielsweise in Bergen 21 mm Regen gemessen.

Auch im Laufe des Ostersonntags, des 12. April, verstärkte sich das Tief TANJA weiter und beeinflusste weite Teile Skandinaviens mit teils starkem Regen, in Lappland auch Schneefall. An der Messstation Sadjem im Norden Schwedens beispielsweise stieg die Schneedecke innerhalb von 24 Stunden von 92 auf 117 cm. Die 24-stündigen Niederschlagssummen hatten Maxima in Lappland mit 25 mm in Vidsel und im Hinterland der norwegischen Küste um Molde mit 46 mm auf dem Berg Mannen. Im Laufe des Tages wurde zum Beispiel die Mitte Schwedens zunächst von der Okklusionsfront des Tiefs TANJA überquert, also von einer Front ohne Luftmassenänderung. Am Abend passierte dann die Kaltfront, die besonders kühle arktische Meeresluft mit sich brachte und sowohl Regen als auch Schnee produzierte. Während also am Tag Höchsttemperaturen bis 18,5°C in Kalmar erreicht wurden, sanken die Tiefsttemperaturen in der Nacht verbreitet unter den Gefrierpunkt. In Deutschland sorgte die südliche Strömung vor Tief TANJA gemeinsam mit dem Hochdruckgebiet MAX über Osteuropa für einen besonders warmen Ostersonntag, der die Temperaturen, abgesehen von der Nordseeküste, im gesamten Land auf über 20°C steigen ließ. Im Rheingraben sowie an den Messstationen Jena und Geldern-Walbeck wurden sogar die 25°C überschritten.

Die Kaltfront zog jedoch weiter nach Süden und lag zum Zeitpunkt der Bodenwetterkarte des 13. April sozusagen in doppelter Ausführung über Norddeutschland. Der Tiefkern hatte sich im Laufe des Vortages bis über das nördliche Ende des Bottnischen Meerbusens verlagert und seinen Luftdruck auf etwa 980 hPa verstärkt; die Warmfront reichte vom finnischen Teil Lapplands ausgehend über Russland etwa bis Brjansk. In der Nacht fielen in verschiedenen Landesteilen geringe Regenmengen, mit einem 12-Stunden-Maximum von 5,7 mm an der Wetterstation Berlin-Kaniswall. Sehr deutlich war die Kaltfront auch im Temperaturgefälle auszumachen. In München, das erst am Abend von der Kaltluft erreicht wurde, stieg die Temperatur auch am Ostermontag auf 22°C; in Waldshut-Tiengen wurde 24°C erreicht. Dagegen wurde an den Küsten und in den nördlichen Mittelgebirgen nicht einmal die 10°C-Marke überschritten. Auch im Warmsektor des Tiefs wurden im russischen Borowitschi 16°C und in Minsk 19°C erreicht. Aufgrund der Krümmung der Kaltfront war die Slowakei ein Hotspot der Wetteraktivität an diesem Tag. Auf dem knapp über 2000 m hohen Berg Chopok in der Niederen Tatra wurde mit 122 km/h eine Böe mit Orkanstärke gemessen. Aber auch im Tal wurden am Flughafen der Stadt Žilina Windgeschwindigkeiten bis 94 km/h gemessen. Die maximale Regensumme an der Kaltfront zwischen 8 Uhr und 20 Uhr MESZ betrug 13 mm im niederösterreichischen Bärnkopf. Dieser Wert wurde im finnischen Taivalkoski mit 17 mm im Bereich des tiefsten Druckes übertroffen, und außerdem am norwegischen Sognefjell mit 28 mm, wo das Tiefdruckgebiet TANJA am Vormittag weiter mit Sturmstärke arktische Kaltluft heranführte.

Nachdem sich das Tiefdruckgebiet TANJA im Laufe des 13. April durch eine zunehmende Übereinstimmung der Lagen des Boden- und des Höhentiefs abgeschwächt hatte, lag es am 14. April um 00 Uhr UTC mit einem Kerndruck von gut 990 hPa über der Südhälfte Finnlands. Um den Kern zog sich in einem Bogen die Okklusionsfront, die sich am Okklusionspunkt über Moskau wiederum in ihre Bestandteile, die Warm- und die Kaltfront, aufteilte. Die Warmfront zog sich zu diesem Zeitpunkt über die Ukraine bis zum Donaudelta, die Kaltfront über die westliche Ukraine, Ungarn und Slowenien bis in die Schweizer Alpen. Nördlich des Okklusionspunkts zweigte eine weitere Warmfront ab, die östlich der Stadt Jaroslawl endete. Besonders interessant für die Wettersituation war wiederum die Kaltfront, denn hinter ihr sanken die Temperaturen in der Nacht besonders in Süddeutschland flächendeckend deutlich unter den Gefrierpunkt, in Sonnenbühl auf der Schwäbischen Alb sogar bis auf -11,1°C. Im Stau der Ostalpen waren derweil nachtsüber noch Schauer unterwegs, die bis zu 26 mm Regen im oberbayrischen Marktschellenberg brachten. Am Tag selbst gab es in Mittel- und Osteuropa weitestgehend harmlose Quellbewölkung mit vereinzelten leichten Schauern. Dagegen fiel an der sich allmählich verwellenden Kaltfront erneut viel Regen, so zum Beispiel 18 mm an der Wetterstation Iezer in den rumänischen Karpaten. Auch die Adriaküste war von Starkregen betroffen, mit 25 mm in 12 Stunden in Dubrovnik sowie 33 mm in Tivat. Der durch sie hervorgerufene Temperatursturz blieb sehr markant. Beispielsweise sank die Tageshöchsttemperatur in Kiew vom 13. auf den 14. April von 21,6°C auf 5,3°C, in Budapest von 23,7°C auf 10,5°C. Ähnliche Differenzen wurden von Basel bis Moskau und von Minsk bis Belgrad gemessen.

Durch die Verwellung der Kaltfront entstand ein neues Tiefdruckgebiet, was jedoch weiter unter dem Namen TANJA III geführt wurde, III weil auch der ursprüngliche Tiefdruckkern sich in den 24 Stunden bis 00 Uhr UTC am 15. April zwiegespalten hatte. Das Tief TANJA I lag zu diesem Zeitpunkt mit etwa 998 hPa nordöstlich von St. Petersburg, TANJA II mit knapp 995 hPa über dem Nordkap. Da es zu diesem Zeitpunkt keine abgeschlossenen Isobaren – Linien gleichen Luftdrucks auf einer Wetterkarte – um sich herum besaß, war der Tiefdruckkomplex TANJA I-III definitionsgemäß gemeinsam mit dem nachfolgenden Tief ULRIKE als Randtief des mit 980 hPa zwischen Spitzbergen und Jan Mayen liegenden Zentraltiefs anzusehen. Auf Grundlage der Bodenwetterkarte hätte man davon ausgehen können, dass Tief ULRIKE nun soweit abgeschwächt war, dass es in den folgenden 24 Stunden von der Wetterkarte verschwände. Dem war nicht so, denn eine erneute Wellenbildung in der oberen Atmosphäre hatte im Bereich der Okklusionsfront wiederum großräumiges Aufsteigen von Luftmassen zur Folge. Dadurch vertiefte sich der Luftdruck in Bodennähe und das Tiefdruckgebiet TANJA intensivierte sich noch einmal. So kam es zum Beispiel im Dorf Jemezk in der Oblast Archangelsk in den 12 Stunden bis 17 Uhr MESZ zu 8 mm Regen und Schnee und in den darauffolgenden 12 Stunden wiederum 8 mm.

Um 00 Uhr UTC am 16. April lag das Tief TANJA mit einem Druck von gut 980 hPa über der Oblast Wologda. Obwohl die Fronten nur in Zentrumsnähe wirklich wetteraktiv waren, erstreckte sich das gesamte System von der Barentssee bis zur Ostküste des Schwarzen Meeres. Der Abstand zu Tief ULRIKE hatte sich im Vergleich zum Vortag etwas vergrößert. Unter Warmlufteinfluss stieg die Temperatur in Archangelsk selbst an diesem Tag auf 6,6°C und es wurden 6 Stunden Sonnenschein gemessen. Erst am Abend begann es an der Okklusionsfront zu schneien.

Auch am 17. April blieb das Tief TANJA im Raum Archangelsk ziemlich stationär, bei verbreitetem leichtem Schneefall und vereinzelt Regen, der in der Nacht auf den 18. April auch lokal etwas stärker wurde, mit 14 mm im Touristenort Saariselkä in Lappland.

Im Laufe des 18. April schwächte sich das Tief TANJA schlussendlich doch ab und war nur am 19. April noch ein letztes Mal auf der Bodenwetterkarte verzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt lag das Tief zwischen St. Petersburg und Moskau, besaß einen Luftdruck von etwa 1010 hPa, und war soweit um das Tiefdruckgebiet ULRIKE herumgekreist, dass es mit diesem im Vergleich zum 16. April quasi die Plätze getauscht hatte. Insgesamt war es ein recht langlebiges Tief, das trotz seines Aktivitätszentrums über Skandinavien und Russland Einfluss auf das Wetter in weiten Teilen Europas hatte und im deutschsprachigen Raum wahrscheinlich durch einen markanten Temperaturrückgang am Ostermontag 2020 in Erinnerung bleiben wird.