Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet UDINE

(getauft am 16.09.2020)

 

Zu Beginn der zweiten Septemberhälfte war in der mittleren Troposphäre, also in etwa 5,5 km Höhe, über dem zentralen Mittelmeerraum südlich von Sizilien ein eigenständiges Höhentief erkennbar, das schon ein paar Tage zuvor aus einem Höhentrog, also einem Vorstoß kalter Luftmassen nach Süden, über Mitteleuropa in den westlichen Mittelmeerraum abgetropft war. Solche Höhentiefs werden auch als Cut-Off-Tiefs bezeichnet und sind mit relativ kühler Höhenluft angereichert. Über dem warmen Mittelmeer, mit einer Wassertemperatur von rund 27°C, führte dies zu einem relativ großen vertikalen Temperaturunterschied zwischen den Luftschichten und labilisierte so die Atmosphäre. Zudem bewirkte die Dynamik innerhalb des Höhentiefs ein vertikales Aufsteigen der feucht-warmen Mittelmeerluft, wodurch diese kondensierte und zur Ausbildung mächtiger Quellwolken und Gewitterzellen führte. Am Boden sind solche Prozesse mit einem Luftdruckfall verbunden, wodurch sich im Tagesverlauf des 15.09.2020 vor der libyschen Küste ein Bodentiefdruckgebiet ausbilden konnte. In der Analyse für den 16.09.2020 wurde eben dieses Tief von den Meteorologen der Berliner Wetterkarte auf den Namen UDINE getauft, da verschiedene Wettermodelle die Entstehung eines für Europa markanten Medicanes prognostizierten. Der Begriff Medicane setzt sich zusammen aus den englischen Wörtern „mediterranean“ und „hurricane“, da diese Art von Mittelmeertiefs besonders in ihrer Struktur Parallelen zu tropischen Wirbelstürmen aufweisen.

Mit einem Kerndruck von 1010 hPa lag das Tiefdruckgebiet UDINE am 16.09. um 00 UTC, was 02 Uhr MESZ entspricht, vor der Küste Libyens. Im Gegensatz zu herkömmlichen Tiefdruckgebieten der mittleren Breiten, die durch den horizontalen Temperaturunterschied zwischen kälteren polaren und wärmeren subtropischen Luftmassen entstehen und ein typisches Frontensystem ausbilden, sorgt bei dem Tiefdruckgebiet UDINE der vertikale Temperaturunterschied und die Energie, die bei der Kondensation der feuchten Meeresluft freigesetzt wird, für den nötigen Antrieb. Ein Frontensystem bildete sich daher nicht aus. Begünstigt durch schwache Höhenwinde formierte sich rasch eine hochreichende Wolkenspirale, die angetrieben von der Corioliskraft entgegen des Uhrzeigersinns zu rotieren begann, was gut in der nachfolgenden Abbildung zu erkennen ist.

Abb. 1: Medicane UDINE vor der griechischen Küste am 18.09.2020. Aufgenommen vom Satelliten SENTINEL-3. Das Bild umfasst eine Breite von 1750 km. Quelle: https://www.flickr.com/photos/pierre_markuse/50355868136/

 

In den folgenden Stunden verlagerte sich das Tief UDINE mit unwetterartigen Niederschlägen im Kern in nördliche Richtung über das Ionische Meer. Die Niederschläge und Gewitter im westlichen Randbereich des Tiefs UDINE fielen jedoch geringer aus und erreichten in den frühen Morgenstunden Malta. Bei anfänglichen Gewittern und schauerartigem, später sich abschwächendem Regen fielen so innerhalb von 12 Stunden bis 08 Uhr MESZ lediglich 3,0 mm. Im weiteren Tagesverlauf erreichten die Ausläufer der Zyklone dann auch den Osten Siziliens und den Süden Kalabriens. Nachdem die anfänglichen Gewitter vorüber waren, verzeichnete man den ganzen Tag über leichten Regen. Bis 20 Uhr MESZ fielen 12-stündig im Landesinneren Siziliens nur 1-2 mm, der an der Südostküste gelegene Leuchtturm Cozzo Spadaro verzeichnete immerhin 5,0 mm. Auch entlang der Straße von Messina meldete man bis zu 8 mm im gleichen Zeitraum. Durch die ständige Verdunstung des warmen Meerwassers im Bereich des Tiefdruckkerns und die damit verbundene Energiefreisetzung verstärkte sich die Zyklone UDINE im Laufe des Tages rasch zu einem Sturmtief. Da sich der Kern über dem offenen Meer befand, liegen für diesen Bereich keine Niederschlagssummen und kaum Windmeldungen vor. Ein Schiff südöstlich von Malta, in der Nähe des Tiefdruckkerns, meldete um 11 Uhr MESZ allerdings eine Windgeschwindigkeit von 89 km/h im 10-Minuten-Mittel. Auf Malta und Sizilien, im Randbereich des Tiefs, erreichte der vornehmlich aus nördlicher Richtung kommende Wind kaum über 30 km/h im 10-Minuten-Mittel. Nur um 23 Uhr MESZ verzeichnete der Militärflugplatz Catania-Sigonella eine Windgeschwindigkeit von 167 km/h.

Auch in der Nacht zum 17.09. dauerte der leichte Regen, zeitweise auch Sprühregen im Osten Siziliens, an. Bis 08 Uhr MESZ verzeichnete man so 12-stündig bis 9 mm in der Hauptstadt Catania. Unter Einfluss von weiteren Gewittern fielen im gleichen Zeitraum in den Küstenstädten Messina 12 mm und in Reggio Calabria 27 mm. Durch die nordwärts gerichtete Verlagerung des Sturmtiefs UDINE erreichten die Gewitterzellen am Morgen auch das weiter nördlich gelegene kalabrische Crotone. Niederschläge trafen die Region jedoch kaum. Bis um 12 UTC des 17.09. war der Luftdruck im Kern der Zyklone UDINE bereits unter 990 hPa gefallen. Zudem stellte sich im 500-hPa-Niveau mit der Bildung eines Höhenhochs über der Nordsee und einem weiteren Tiefdruckkomplex vor der Küste Portugals zunehmend eine Omega-Wetterlage, also eine stabile Hochdrucklage, bei der sich ein blockierendes Hoch über Mitteleuropa etabliert, ein. Am östlichen Rand des Hochdruckkomplexes wurden so kühlere Luftmassen in den Einflussbereich der Zyklone UDINE geführt und eine weitere Intensivierung dieser begünstigt. Durch den anhaltenden Druckfall gewann das Sturmtief immer mehr tropische Eigenschaften. So zeigte das Satellitenbild von 04 Uhr MESZ deutlich das für tropische Wirbelstürme markante Auge im Zentrum der Zyklone. Es entsteht dann, wenn die Rotationsgeschwindigkeit durch den Luftdruckfall zunimmt und durch komplexe dynamische Prozesse ein kleinräumiges Absinken der Luftmassen einsetzt. Durch das Absinken erwärmen sich die Luftmassen und bewirken eine Wolkenauflösung.

Im weiteren Tagesverlauf wanderte die Zyklone ostwärts in Richtung Griechenland. Die ersten Niederschläge erreichten jedoch schon im Laufe des Vormittags den Westen des Landes. So verzeichnete man auf den Ionischen Inseln Lefkas und Zakynthos innerhalb von 12 Stunden bis 20 Uhr MESZ bereits 16 mm bzw. 12 mm Niederschlag. Unter Einfluss von morgendlichen Gewittern fielen auf Kefalonia 29 mm. Die im bergigen Relief gelegene Hauptstadt der Region Mittelgriechenland Lamia verzeichnete im gleichen Zeitraum schon eine weitaus höhere Niederschlagssumme von 142 mm. In der Nacht zum 18.09.2020 erreichte die Entwicklung des Sturmtiefs UDINE schließlich seinen Höhepunkt.

Am 18.09.2020 um 02 Uhr MESZ, lag der Wirbelsturm mit einem Kerndruck von 985 hPa und Windgeschwindigkeiten von bis zu 120 km/h unmittelbar vor den Ionischen Inseln. Damit konnte Tief UDINE nun offiziell als Medicane bezeichnet werden. In den frühen Morgenstunden überquerte das Tiefdruckgebiet die Inseln Kefalonia und Zakynthos mit orkanartigen Winden und wolkenbruchartigen Regenfällen. So wurden an den Flughäfen auf Kefalonia und Zakynthos am Morgen Windböen mit bis zu 111 km/h gemeldet, die mit bis zu 6 m hohen Wellen einhergingen. Der gegen 04 Uhr MESZ einsetzende zunächst leichte, später auch starke Regen brachte auf Zakynthos bis 08 Uhr MESZ 19 mm. Auf Kefalonia setzte der Regen in Verbindung mit kräftigen Gewittern erst gegen 08 Uhr MESZ ein. Etwas früher erreichte der stärker werdende Regen, zum Teil mit Gewittern, auch den Westen der Halbinsel Peleponnes. In den Küstenstädten Andravida und Kalamata verzeichnete man 33 mm und 12 mm. Im arkadischen Tripolis fielen 23 mm. Nachdem der Kern des Medicanes UDINE die Ionischen Inseln passiert hatte, zog er weiter über den Nordwesten der Peleponnes, um dann, abgelenkt durch die Höhenlagen der Halbinsel, entlang der Westküste in südliche Richtung zu ziehen. Auch im Nordwesten der Peleponnes gelegenen Andravida erreichten die Windböen in den frühen Morgenstunden eine Geschwindigkeit von bis zu 83 km/h. Mit dem Auftreffen auf Land verlor der Medicane UDINE allerdings schnell an Intensität. Es fehlte die Zufuhr der warmen und feuchten Meeresluft als Energielieferant, um das System zu erhalten. So war der Kerndruck bis 08 Uhr MESZ bereits auf rund 1005 hPa gestiegen. Die hohen Windgeschwindigkeiten ließen durch die abnehmenden Luftdruckdifferenzen im Tagesverlauf allmählich nach. Auf den Ionischen Inseln und im Nordwesten der Peleponnes verzeichnete man bis 20 Uhr MESZ dennoch Windböen mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 80 km/h.  Innerhalb von 12 Stunden fielen bis 20 Uhr MESZ zudem auf den Ionischen Inseln Kefalonia 42 mm, Lefkas 33 mm und Zakynthos 18 mm. Auf der Peleponnes meldeten Andravida, Kalamata und Tripolis bei durchgehend leichtem, teils auch stärkerem Regen im gleichen Zeitraum 18 mm, 26 mm und 8 mm. Auch in Larisa, der Hauptstadt der nordgriechischen Region Thessalien fielen bei langanhaltenden Gewittern und Regen 26 mm. Lamia konnte im Tagesverlauf mehrmals starke Niederschläge beobachten. Messwerte sind allerdings nicht bekannt, da das Stationsmessnetz dort, in der bergigen Gegend, für das nur sehr kleinräumige Niederschlagsfeld des Medicane nicht dicht genug aufgestellt ist. Auch wenn die von den wenigen offiziellen Wetterstationen vor Ort aufgezeichneten Werte nicht überaus dramatisch wirken, zeigen Medienberichte und Videoaufnahmen das enorme Ausmaß der Schäden. So wurden viele Straßen auf den Inseln überflutet, so dass die Infrastruktur teilweise arg in Mitleidenschaft geriet. Dächer wurden abgedeckt und vielerorts fiel zudem der Strom aus. Das bergige Relief Griechenlands erhöht die Wahrscheinlichkeit bei Starkniederschlägen für Erdrutsche und Murenabgänge.

 

Bis zum 19.09.2020 um 02 Uhr MESZ hatte sich Tief UDINE auf knapp unter 1010 hPa abgeschwächt und sich bis vor die Südwestküste der Peleponnes verlagert. Das Niederschlagsgebiet erreichte dadurch in den Morgenstunden auch die Inselgruppe der Kykladen. Hier brachte der Regen in Verbindung mit anfänglichen Gewittern in 12 Stunden bis 08 Uhr MESZ rund 7 mm, auf Syros auch 17 mm. Die gleiche Niederschlagsumme im identischen Zeitraum verzeichnete man durch Regen, der allmählich in Sprühregen überging, auch in Kalamata. In Tripolis meldete man 11 mm und auch nördlich von Athen, in Tatoi, fielen 12-stündig bis 08 Uhr MESZ 5 mm. In Athen brachte der anhaltende Regen innerhalb von 6 Stunden bis 14 Uhr MESZ 17 mm, in Tripolis 18 mm und im südwestlich von Tripolis gelegenen Astros sogar 31 mm. Auf der zu den Kykladen gehöhrenden Insel Paros verzeichnete man mit 12 mm im gleichen Zeitraum die höchste Niederschlagssumme der Inselgruppe. Die Niederschläge auf den Ionischen Inseln und im Norden der Peleponnes ließen dagegen langsam nach.  In der zweiten Tageshälfte erreichte das Niederschlagsgebiet unter südwärts gerichteter Verlagerung des Tiefs UDINE schließlich auch den Norden der griechischen Insel Kreta. Über dem Mittelmeer hatte sich die Zyklone noch einmal auf rund 1005 hPa verstärkt. In Verbindung mit Gewittern fielen so innerhalb von 24 Stunden bis 08 Uhr MESZ des 20.09.2020 in Heraklion 48 mm, im Nordwesten der Insel gelegenen Souda 8,5 und auf dem 360 m hoch gelegenem Militärflugplatz Kastelli, südöstlich von Heraklion, 31 mm. Bis 14 Uhr MESZ kamen hier durch anhaltenden Regen noch einmal 78 mm hinzu. In den folgenden Stunden zog das Tiefdruckgebiet UDINE dann über das Mittelmeer in Richtung ägyptisches Festland ab und ging dort schließlich in einen Tiefdruckkomplex über.

Tief UDINE war eines der signifikantesten Druckgebilde der letzten Jahre in Europa. Selbst die griechischen Meteorologen, die normalerweise keine Tiefdruckgebiete taufen, gaben dem Sturm einen Namen, weshalb auch in den Medien der Name IANOS auftaucht. Nach Auswertungen der Ionischen Universität in Kefalonia war der Medicane UDINE der stärkste, der je über dem Mittelmeer beobachtet wurde. Eine temporär aufgestellte Wetterstation der Universität verzeichnete eine Spitzenböe von 194 km/h und eine einminütige Windgeschwindigkeit von 158 km/h. Dies entspricht umgerechnet knapp einem Hurrikan der Kategorie 2. Zudem wurden akkumuliert 644 mm gemessen – zum Vergleich: in Berlin-Dahlem fallen in einem ganzen Jahr durchschnittlich 589 mm. Der minimale Luftdruck, der verzeichnet wurde, lag bei 984,3 hPa.