Lebensgeschichte

 

Tiefdruckgebiet VICTORIA

(getauft am 13.02.2020)

 

Das Tief VICTORIA – getauft am 13.02.2020, anschließend eine bombogenetische Entwicklung, Aufspaltung in drei Töchterkerne und eine Präferenz für das Nordpolarmeer. Das ist die Zusammenfassung einer relativen langen Lebensgeschichte für ein Tief. Aber der Reihe nach: Im Februar dominierte in der mittleren Troposphäre ein ausgedehnter Trog über dem Nordatlantik. Über Mittel- und Osteuropa befand sich hingegen ein Höhenkeil. Diese Konstellation erwies sich als sehr persistent – so reiht sich das Tief VICTORIA in eine ganze Reihe von Tiefs, die an diesem Trog über dem Nordatlantik entstanden sind, ein. Der bekannteste Vertreter ist sicher das Sturmtief SABINE, dem VICTORIA bzgl. des minimalen Kerndrucks aber allemal das Wasser reichen kann.

Am 13.02.2020 herrschte hoher Bodenluftdruck über Süd- und Mitteleuropa.  Die Überreste des Tiefs SABINE lagen über der Karasee und Lappland. Doch kaum war das Sturmtief SABINE überstanden, deutete sich schon das nächste Ungemach an. Das Tief TOMRIS lag mit einem Kerndruck von etwas unter 980 hPa um 0 Uhr UTC nur wenig westlich von Irland und das Nachfolgetief UTA befand sich mit einem Kerndruck von sogar 965 hPa bereits über dem Nordatlantik, südlich von Grönland und östlich von Neufundland. Aber es sollte alles noch besser kommen, denn am 13.02. wurde das Tief VICTORIA in Prognose auf den 14.02. getauft.

Zum 14.02. verlagerte sich der Tiefdruckkomplex ostwärts. Der Wirbel TOMRIS überquerte Deutschland und beendete den schwachen Zwischenhocheinfluss. Das Tief UTA zog flott nordostwärts und lag um 0 UTC mit einem Kerndruck von – Achtung! – unter 940 hPa südwestlich von Island. Das Sturmfeld dieses Tiefs lag überwiegend über dem Atlantik, nur Island spürte auch noch etwas davon. An einer kleinen weiteren Wellenstörung bildete sich über Neufundland das Tief VICTORIA und freute sich bereits auf die anstehende Atlantiküberquerung, und zwar in rasantem Tempo. Denn nur 24 Stunden später lag der Kern von Tief VICTORIA bereits südlich von Island auf der Breite von Schottland. Das Tief UTA verlagerte sich weiter nach Norden und spaltete sich in drei Kerne auf, wovon der eine wieder westwärts wanderte, um auch Grönland ein frisches Lüftchen zu bescheren. VICTORIA war zu diesem Zeitpunkt eigentlich ein Randtief von UTA mit einem minimalen Kerndruck von etwa 950 hPa. Wie für Tiefs üblich, besaß VICTORIA auch das klassische Frontensystem aus Warm- und Kaltfront sowie einer bislang noch kurzen Okklusion. Zum 16.02. verlagerte sich das Tief VICTORIA etwas nordwärts, um Island zu besichtigen und zwar alleine, denn es übernahm das Frontensystem von UTA. Aber nicht nur das, Tief VICTORIA lag entwicklungsgünstig am linken Jetausgang. Im Jetausgang kommt es zu diffluenter Strömung, d.h. die Luftmassen strömen auseinander und werden langsamer. Im linken Bereich dieses Jetausgangs divergiert in der Höhe die Luft und aufgrund der Massenerhaltung strömt Luft von unten nach, d.h. der Bodenluftdruck sinkt. Der Kerndruck von Tief VICTORIA sank innerhalb von 24 Stunden um etwa 40 hPa. Meteorologen sprechen von einer Bombogenese oder rapiden Zyklogenese, wenn sich 24 Stunden am Stück der Luftdruck um mindestens 1 hPa pro Stunde senkt. Damit kann man die Entwicklung von Tief VICTORIA zu Recht als Bombogenese bezeichnen. Im Verlauf der Entwicklung sank der Kerndruck von Tief VICTORIA noch auf 920 hPa. Zum Vergleich: Der niedrigste je über dem Nordatlantik gemessene Druck betrug 913 hPa und wurde am 11.01.1993 registriert. Der weltweite tiefste gemessene Druck beträgt 870 hPa und wurde von dem tropischen Wirbelsturm TIP erreicht. Das alles blieb natürlich nicht unbemerkt. So wurden in den isländischen Orten Hraunsmúli 172 km/h und in Bláfeldur 159 km/h als maximale Windböen während einer Stunde am Abend des 16.02. gemessen. Dabei hatte sich das Tief bereits in zwei Kerne geteilt. Der bisher erwähnte erste Teil, VICTORIA I, besaß eine Okklusionsfront, die westlich von Südnorwegen in die Störung VICTORIA II überging. Diese Okklusion ging an der Südspitze Norwegens in eine Warmfront über, welche sich bis an die französische Atlantikküste erstreckte, sowie in eine Kaltfront, die über Großbritannien in die Polarfront überging. Diese Okklusion bescherte Südnorwegen Niederschlag. So wurden südlich von Bergen 39 mm pro Stunde gemessen bei einstündigen Maximalböen von bis zu 124 km/h. 

Am 17.02. kam dann noch ein dritter Tiefdruckkern hinzu, welcher sich bereits über Nordfinnland befand und ein eigenständiges Frontensystem aufwies. Der zweite Kern wollte Island partout nicht verlassen und mit seiner verwellten Okklusion okkupierte er auch die Nordküste Skandinaviens. Der Kern VICTORIA I, mit einem Kerndruck von immer noch 950 hPa, zog über das Seegebiet bei den Faröer-Inseln. Sein Starkwindfeld erstreckte sich über Großbritannien und Irland. Cairnwell meldete um 6 UTC 154 km/h und der Aonach Mòr um 3 UTC 143 km/h.  Durch das Starkwindfeld verlief auch die Okklusion von VICTORIA I und machte sich in Form ausgiebigen Niederschlags bemerkbar. Aviemore meldete 35 mm und Tulloch Bridge 24 mm innerhalb von 12 Stunden. Ganz im Gegensatz dazu stehen die Höchstwerte in Deutschland. So wurden in der Nacht (!) auf den 17.02. in Berlin-Schönefeld 16,3°C und in Ettingen bei Basel sogar 20,3°C gemessen. Diese wurden durch eine südwestliche Höhenströmung an einem umfangreichen Trog über dem Nordatlantik, an dessen Vorderseite eben Tief VICTORIA liegt, verursacht.

Am 18.02. entwirrte sich das Frontensystem ein wenig. So lagen die Kerne in der Reihenfolge II, I, III entlang einer gemeinsamen Okklusion, die sich von Grönland über Island bis ans Nordkap erstreckte. Auch der zugehörige Trog verlagerte sich ostwärts. Der trogvorderseitig gelegene Kern VICTORIA III wies immer noch einen Kerndruck von 950 hPa auf. Diese Konstellation führte zu einer nahezu zonalen Strömung über Mitteleuropa. Dabei wurde innerhalb von 12 Stunden in Tromsø gerade einmal 1 mm Niederschlag bei 0°C Maximaltemperatur gemessen.

Dadurch, dass die Frontalzone nun zusehends verwellte, fächerte der Druckgradient südlich des Trogs am 19.02. auf und die Kerne VICTORIA I und II verlagerten sich etwas südwärts, während VICTORIA III nun Nowaja Semlja erreicht hatte. Auch die Okklusionsfront verwellte bei südlicher Verlagerung. Dadurch fiel nun leichter Niederschlag in der Mitte Norwegens und Schwedens, welcher 12-stündig 1 mm nicht überschritt. Hinter der Okklusionsfront gelangten arktische Luftmassen nach Nordnorwegen, sodass 5 cm über dem Erdboden bis -20°C und als minimale 2 m-Lufttemperatur in Namakka -22°C gemessen wurden.

Das Nachfolgetief WILTRUD, welches sich zum 20.02. nach Island verlagerte und dabei einen minimalen Kerndruck von etwa 950 hPa erreichte, übernahm nun zunehmend die Rolle des steuernden Zentraltiefs. Der Kern VICTORIA II löste sich auf, VICTORIA I hatte sich rasch ostwärts über das Weiße Meer verlagert, während sich VICTORIA III auf Nordpolkurs begab und bereits nördlich von Spitzbergen, d.h. nördlich des 80. Breitengrades, lag. Dabei füllte sich der Kern weiter auf, sodass der Minimaldruck um 0 UTC etwa 970 hPa betrug.

Ob VICTORIA III den Nordpol erreicht hat, werden wir nie erfahren, denn die Berliner Wetterkarte reicht nicht bis dahin. Ab dem 21.02. wurden keine Kerne von Tief VICTORIA mehr auf der BWK verzeichnet. Doch die südlichen Isobaren eines kleinen Tiefs über dem Nordpolarmeer deuten darauf hin, dass VICTORIA III tatsächlich den Nordpol erreicht hat. Damit endet die Geschichte von Tief VICTORIA also in der nordischen Kälte.