Lebensgeschichte
Tiefdruckgebiet
XAVER
(getauft am
02.08.2019)
Anfang August 2019 befand sich über
dem Nordatlantik in der höheren Troposphäre statt dem dort sonst typischerweise
aufzufindenden Jetstream eine gradientschwache Lage
mit Neigung in Form eines Kaltlufttropfens, also eines abgeschlossenen
Kaltluftbereiches. Das hatte zur Folge, dass sich mehrere separate
Tiefdruckgebiete zunächst gegenseitig umkreisten und am 02. August auch auf
Meereshöhe zu einem einzelnen Tiefdruckgebiet zusammenfanden. Da eine
Verlagerung dessen über Zentraleuropa den Wettermodellen zu entnehmen war,
wurde es auf der Analysekarte der Berliner Wetterkarte von 00 Uhr UTC bzw. 02
Uhr MESZ am 02. August auf den Namen XAVER getauft.
Aufgrund seiner Entstehung aus mehreren
Tiefs hatte der Wirbel XAVER zu diesem Zeitpunkt eine äußerst unkonventionelle
Frontenstruktur, bestehend aus mehreren Warm-, Kalt- und Okklusionsfronten.
Dabei verhält sich eine Okklusionsfront am Boden wie eine Warm- oder eine
Kaltfront und in der Höhe wie der jeweils andere Typ; die Art der Luftmasse
wird durch sie allerdings typischerweise nicht beeinflusst. Das östlichste
Wolkenband, einer solchen Okklusionsfront (auch als Okklusion abgekürzt)
zugehörig, sorgte zwar auf der Insel Irland für eine Bewölkungszunahme, die
Niederschläge beschränkten sich jedoch zunächst nur auf den Atlantischen Ozean.
Auch am 03. August, wieder um 00 Uhr
UTC, hatte sich das Tiefdruckzentrum nicht vom zentralen Nordatlantik entfernt.
Die Fronten hatten sich allerdings schon weiter ausgebreitet, sodass ab dem
Morgen bereits Regen aus dem Südwesten Irlands gemeldet wurde, der sich im
Laufe des Tages auf die westlichen Britischen Inseln ausbreitete, mit maximal 9
mm oder l/m2 (die beiden Maßeinheiten sind äquivalent) am Flughafen
Glasgow innerhalb von 12 Stunden bis 20 Uhr MESZ. In der Nacht auf den 04.
August regnete es in den bereits betroffenen Gebieten weiter, allerdings nur
mit schwacher Intensität. Stärkerer Regen wurde am Tag beobachtet, zwischen 16
und 23 Uhr MESZ kam es auch zu langsam ziehenden Gewittern mit Schwerpunkt über
Südschottland und Nordengland. Die höchsten Regensummen kamen jedoch im Westen
Irlands durch die nachfolgende Okklusion zustande, mit bis zu 24 mm 12-stündig
am internationalen Flughafen Shannon.
Am 05. August um 00 Uhr UTC hatte
sich der Kern des Tiefs XAVER immer noch nicht vom nordöstlichen Atlantik
wegbewegt und war im Vergleich zum Vortag fast komplett stationär geblieben.
Die anfangs so komplizierte Frontenlage hatte sich etwas vereinfacht. Zum hier
beschriebenen Zeitpunkt waren zwei Okklusionsfronten vorhanden, von denen eine
direkt am Kern begann, ihn umschloss, und sich über der Irischen See vor
Südwales in eine sich über den Atlantik erstreckende Kaltfront sowie eine über
der Biskaya liegende Warmfront aufspaltete. Einige hundert Kilometer weiter östlich
davon verlief die zweite Okklusion in einem Bogen vom Nordatlantik über
Schottland, die Nordsee, Frankreich und Nordostspanien. Da beide Fronten über
Großbritannien lagen, ist es wenig verwunderlich, dass, abgesehen vom Südosten
des Landes, weiter großflächig Regen fiel. Über Frankreich sorgte die
vorgelagerte Okklusion nur für einen bedeckten Himmel, aber am frühen Morgen
begann es durch sie auch im Westen Deutschlands zu regnen; dies nach einer
milden Nacht mit lokal nur knapp unter 20°C Minimaltemperatur. Im Tagesverlauf
verlagerte sich der Regenschwerpunkt weiter nach Osten, wobei der
Kaltfrontcharakter der Okklusion besonders in Niedersachsen in den Vordergrund
trat, wo infolge starker, gewittriger Schauer bis zu 27 mm 12-stündiger
Niederschlag in Braunschweig gemessen wurde.
Mit einer auffrischenden
Höhenströmung dehnte sich das Zentrum des Tiefs XAVER an diesem Tag nach Osten
aus, so dass auf der 00-Uhr-UTC-Analysekarte der Berliner Wetterkarte des 06.
August neben dem ursprünglichen Tief XAVER I, unverändert nördlich von Irland
gelegen, ein weiteres Tiefdruckgebiet XAVER II im Bereich der Orkney-Inseln
aufzufinden war. Vom Tief XAVER I aus zog sich eine relativ schwach
ausgebildete Okklusionsfront über Irland, dann nördlich von XAVER II über das
Nordmeer bis über Skandinavien, bevor sie über Polen als Warmfront endete. Aus
dem Tief XAVER II entsprang ebenfalls eine Okklusionsfront, die in einem Bogen
die Nordsee umrundete und dann als Kaltfront von Niedersachsen bis zur
Westküste Frankreichs verlief. Besonders regenreich war die Nacht an Orten, die
von beiden dieser Fronten passiert wurden, also in Dänemark und entlang der
Küsten der beiden Meerengen Skagerrak und Kattegat. In Kristiansand und
Göteborg fielen je 23 mm Regen, in Dänemark verbreitet über 5 mm. In
Deutschland war die Front schwächer ausgeprägt und abgesehen von der bereits
erwähnten Gewitterlinie, die sich in der ersten Nachthälfte noch fast bis
Magdeburg weiterbewegt hatte und dort lokal bis zu 18 mm Regen brachte, gab es
in Norddeutschland keine markanten Niederschlagssummen. Ganz anders im Süden:
Zwischen Jura, Schwarzwald und Allgäu kam es durch hoch reichende Hebung in
feucht-warmer Luft zu starken Gewittern, die sich auch am Tag hielten, dabei
aber vor allem in den Schweizer Voralpenraum zogen. Der maximale
Niederschlagswert lag bei 67,4 mm innerhalb von 24 Stunden bis 20 Uhr MESZ des
06. August am Flugplatz Birrfeld in Lupfig, Kanton Aargau. Während einzelne Gewitterzellen
ostwärts zogen, breiteten sich die Bedingungen für Gewitter über den Kontinent
aus und bis 18 Uhr waren in fast allen durch Tief XAVER beeinflussten Ländern
Blitze zu sehen und Donner zu hören. Schwerpunkte lagen dabei neben der Schweiz
über dem östlichen Massif Central, Pommern und den
Masuren. Am Abend zogen zudem von Frankreich aus erneut
kräftige Gewitter über die Schwarzwald-Region, die sich erst in den
frühen Morgenstunden mit Erreichen des Bayerischen Waldes auflösten. Die maximale
12-stündige Niederschlagssumme kam mit 62 mm in Ingelfingen-Stachenhausen
zusammen.
Bis 00 Uhr UTC des 07. August hatte
sich der Kern des Tiefs XAVER nun doch etwas verlagert und befand sich über der
schottischen Ostküste. Eine solch geringe Verlagerungsgeschwindigkeit ist für
Tiefdruckgebiete ziemlich ungewöhnlich. Von zwei zu diesem Zeitpunkt
analysierten Okklusionsfronten verblieb eine über der Nordsee; die andere
umrundete den Kern in einem weiten Bogen über Skandinavien und spaltete sich
erst über Lettland auf. Von dort verlief die Warmfront bis über Moldawien und
die verwellte Kaltfront quer über Deutschland und
Frankreich bis über die Bucht von Biskaya. Das Besondere an einer verwellten Front ist, dass an ihr abwechselnd warme Luft
nach Norden und kalte Luft nach Süden gelangen können. An diesen
Austauschpunkten besteht folglich das Potenzial zur Bildung weiterer
Tiefdruckgebiete, in Fachkreisen Zyklogenese genannt.
Die markanteste Verwellung entstand über
Mecklenburg-Vorpommern, wodurch den Tag über entlang der nun über
Süddeutschland schleifenden Front kräftige Niederschläge fallen konnten.
Besonders kräftig fielen diese im Nordschwarzwald und im Raum Stuttgart aus,
mit flächendeckenden Niederschlagswerten von über 30 mm 12-stündig bis 20 Uhr MESZ.
Aber auch in Brandenburg, in Ostfriesland und auf Usedom kam es zu teils
markanten Gewittern. Dagegen blieb es in Nordrhein-Westfalen und
Südniedersachsen weitestgehend trocken mit 9 Stunden Sonnenschein in
Lüdinghausen und 11 Stunden auf Helgoland.
Nach diesen zwei, aus
meteorologischer Sicht, ereignisreichen Tagen verabschiedete sich das
Tiefdruckgebiet XAVER aus Mitteleuropa. In Folge des Auftreffens der Kaltfront
auf den Nordrand der Alpen kamen im Allgäu in der ersten Nachthälfte noch bis
zu 20 mm Regen zusammen. Die Fronten waren allerdings schon weitergezogen. Am
08. August um 00 Uhr UTC befand sich der ursprüngliche Kern des
Tiefdruckgebiets, jetzt als Tief XAVER I bezeichnet, weiter mit einem Luftdruck
von rund 1000 hPa über der Nordsee. Der ehemalige Okklusionspunkt (der Punkt,
an dem sich die Okklusion in ihre Bestandteile, also Warm- und Kaltfront,
auflöst) hatte sich abgekoppelt und lag als Tief XAVER II über dem zentralen
Schweden, und das Tief, dass sich am 07. August über Mecklenburg-Vorpommern
gebildet hatte, wurde nun als Tief XAVER III bezeichnet und lag zwischen
Litauen und Gotland. In dessen Umkreis war auch das extremste Wetter zu finden,
denn in der Nacht kam es im Osten Polens zu kräftigen Regenschauern und
Gewittern, mit 65 mm im gewohnten 12-stündigen Zeitraum bis 08 Uhr MESZ in Kętrzyn. Außerdem wurde zwischen 23 Uhr und 03 Uhr
MESZ die gesamte Slowakei von einer ausgedehnten Gewitterzelle überquert.
Bedingt durch die stärkere Energiezufuhr durch den Sonnenschein am Nachmittag
entwickelte sich die Kaltfront des Tiefs XAVER III zu einer ausgewachsenen
Gewitterfront, die beispielsweise zwischen 15 Uhr und 16 Uhr MESZ die
Temperatur in Kiew von 28°C auf 20°C reduzierte. Dabei wurde eine Böe mit einer
Geschwindigkeit von rund 75 km/h gemessen. Der stärkste Niederschlag
diesbezüglich wurde mit teilweise mehr als 50 mm 12-stündig im Grenzbereich
zwischen Weißrussland und Russland gemessen. Aber auch im Bereich der Tiefs
XAVER I und XAVER II kam es in Südskandinavien, insbesondere in Dänemark, zu
Gewittern. Diese waren jedoch nicht in einer frontalen Struktur organisiert,
weswegen sich die Niederschlagsmengen sehr ungleichmäßig verteilten. Im
finnischen Pori zum Beispiel wurden 37 mm
registriert, während in der nächsten Wetterstation, Kokemäki,
keine 40 km entfernt, überhaupt kein Niederschlag registriert wurde.
Im Verlauf des 08. August wurde das
Tief XAVER I in die Zirkulation seines Nachbartiefs XAVER II aufgenommen, sodass
auf der Bodenwetterkarte des 09. August nur noch ein Tief XAVER II mit Zentrum
über Stockholm und ein Tief XAVER III mit Luftdruck 995 hPa und Zentrum
westlich von Moskau auszumachen waren. Während sich ersteres innerhalb weniger
Stunden unter dem Einfluss von Hoch ANDREA zurückziehen sollte, war das
Haupttief XAVER III weiterhin sehr wetteraktiv und akkumulierte über Nacht eine
Regensumme von 92 mm an der Station Demjansk.
Gleichzeitig zog sich die dazugehörige Kaltfront quer über die Balkanhalbinsel,
sodass auch durch Hebungseffekte an den Karpaten stattliche Regensummen
zustande kamen.
Während Deutschland und Zentraleuropa
am 10. August schon fest im Griff des nachfolgenden Tiefs YAP waren, befand
sich auch das Tief XAVER bis zum 11. August im westlichen Uralvorland. Am 12.
August war es dann endgültig von ihr verdrängt.
Insgesamt war das Tiefdruckgebiet
XAVER ein langlebiges Gewittertief, dass prägend für eine nasse und
vergleichsweise kühle Phase in Zentraleuropa 2019 war. Vielerorts wurde dadurch
das Niederschlagsdefizit etwas gemildert, andernorts entstanden Sturmschäden.